Der Schauspieler Gerhard Polacek, hier auf der Neckarinsel bei Esslingen, ist in einer Zeitkapsel zu sehen.. Foto:  

Die Marbacher Dokumentarfilmerin Sabine Willmann zog vor einem Jahr mit der Kamera los – entstanden sind rund 40 Beiträge, die als Zeitkapseln auf einer Internet-Plattform abrufbar sind.

Marbach - Die Welt möglichst so darstellen, wie Menschen sie erleben, wollte Sabine Willmann, als sie so ziemlich genau vor einem Jahr mit der Kamera zum ersten Mal P ersonen filmte, die sich mit der Corona-Pandemie konfrontiert sahen. „Mir war nicht klar, wie lange der Ausnahmezustand anhalten würde – und deshalb wollte ich so viel wie möglich davon festhalten“, sagt die Marbacher Dokumentarfilmerin. Seitdem hat sie rund 40  Zeitkapseln mit einer Länge von zwei bis 24  Minuten erstellt, die auf der Internetseite coronography.net zu sehen sind.

Die Plattform ist zum ersten Mal beim 35. DOK.fest München im vergangenen Jahr gezeigt worden. Das Festival lief digital ab und erreichte rund 75 000 Zuschauer. So viel wie bei noch keinem Münchener Dokumentarfilm-Festivals zuvor. Weil die Pandemie die Branche lahmlegte, entschlossen sich rund 50 der 900 Mitglieder aus dem Berufsverband AG DOK, in diese Situation hinein Kurzfilme zu produzieren und sie digital zu präsentieren.

Taxifahrer und Pizzalieferanten erzählen vor der Kamera

Dass es keine leichte Aufgabe werden würde, war Sabine Willmann bewusst. Denn Interviewpartner waren besonders zu Beginn der Pandemie Mangelware. „Es gab Verbote, sodass es kaum zu Begegnungen kam“, erinnert sich die Filmerin. Der Verzicht auf Stimmen und Perspektiven in Beiträgen war für Willmann eine neue Erfahrung. „Dokumentarfilmer leben unter anderem von Zufallsbegegnungen“, sagt sie und berichtet von Treffen mit Taxifahrern und Pizzalieferanten. „Ich konnte diese Begegnungen an Ort und Stelle nutzen, um auf aktuelle Fragen in der Pandemie einzugehen.“ Bei terminierten Treffen kamen beispielsweise der Leiter eines Buchantiquariats oder eine Hornistin des Stuttgarter Staatsorchesters zu Wort. Gerade die Musikerin habe, so Willmann, „ganz tolle Aktionen veranstaltet, um zu zeigen, wie es um die nicht abgesicherten Künstler in der Pandemie steht.“ So entstand eine Mischung aus Zufallsbegegnungen und bewusst angesprochenen Personen, die sich äußerten. In einer dritten Phase filmte Sabine Willmann mit einigen bereits Interviewten nach einer gewissen Zeit einen Fortsetzungsbeitrag.

Bei ihren Recherchen förderte die Filmemacherin direkte und unvermittelte Eindrücke zutage. Pizzalieferanten erzählten, dass sie Einnahmeeinbrüche erlitten. „Die Leute kochten ja oft selbst – und große Partypizzen mit Freunden zu bestellen, fiel aus.“ Parallel dazu gab es weniger Trinkgeld. Wichtig war Sabine Willmann, eine breite Palette von Sichtweisen. „Die Gesellschaft ist vielfältig, und jeder hat seine Art, sich seine Meinung zu bilden.“ Existenzielle Notlagen zu zeigen sei genauso notwendig wie Berichte über Maßnahmen gegen die Pandemie.

Schicksal einer Altenheimbewohnerin geht der Filmerin nahe

Nahe gegangen ist der Filmerin das Schicksal einer Altenheimbewohnerin im Landkreis Schwäbisch Hall. „Die Frau hatte einen Schlaganfall und konnte nicht heraus zu ihrer Therapie.“ Sie habe kaum Besuche empfangen können und sich wie in einem Gefängnis gefühlt. Dabei sei es für die Frau überlebenswichtig gewesen, durch die Therapie wieder Schritt für Schritt ins Leben zurückzukehren. „Natürlich war da kein Dreh möglich“, erzählt Sabine Willmann. Diese Frau jetzt endlich besuchen zu können, um mit ihr eine der beiden letzten Coronography-Dreharbeiten zu machen, bedeute ihr viel. Allerdings müsse die Bewohnerin auch vorsichtig sein, denn sie sei nach wie vor abhängig von ihrem Umfeld, sodass man wohl außerhalb der Einrichtung filmen werde. Dass aber solche Stimmen in der Öffentlichkeit Gehör finden, dafür will sich Sabine Willmann mit ihrem Projekt einsetzen. „Von den Betroffenen hört man zu wenig – während man im Fernsehen ständig gezeigt bekommt, wie wichtig Zahlen und Modellrechnungen zur Pandemie sind.“ Ihre Beiträge sollen für mehr Vielstimmigkeit sorgen.

Ein Kurzfilmabend mit Sabine Willmann und ihren Beiträgen ist im Mai in der Marbacher Stadthalle in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt geplant. Dabei werden Gesprächspartner aus den Filmen auftreten. Der genaue Termin wird noch bekannt gegeben.