Menschen demonstrieren in Stuttgart für Grundrechte. Foto: Sabine Willmann

Die Marbacher Dokumentarfilmerin Sabine Willmann beteiligt sich an einem Projekt, bei dem die Corona-Pandemie filmisch dokumentiert wird.

Wir leben in einer besonderen Zeit – diese Feststellung ist für Sabine Willmann Ausgangspunkt ihrer Streifzüge mit der Kamera während der Corona-Pandemie. Die Marbacherin, die erst im Vorjahr mit ihrem Mann Oliver Heise den 4279 Kilometer langen Pacific Crest Trail durchwanderte, ist nun wie viele andere Dokumentarfilmer von den Einschränkungen betroffen. Den Kopf in den Sand zu stecken, kommt für die engagierte Filmemacherin aber nicht infrage. Sie hat sich deshalb vorgenommen, diese Ausnahmesituation, in der sich die Menschen wiederfinden, in Kurzbeiträgen festzuhalten.

Zu sehen sind bislang fünf ihrer etwa zwei- bis zehnminütigen Beiträge mit Marbacher Menschen und Orten auf der Plattform www.coronography.net. „Es sind Zeitkapseln – ich habe in den vergangenen Wochen immer wieder gedreht und das Material mit meinem Mann geschnitten“, erzählt Sabine Willmann, die das Projekt im Rahmen des Dokumentarfilmfestes DOK.fest München kennenlernte. Das Festival musste abgesagt werden, findet aber derzeit online noch bis zum
24. Mai statt. Rund 60 freien Dokumentarfilmer der Arbeitsgemeinschaft (AG) DOK hatten sich Mitte März zusammengeschlossen, um mit ihren Beiträgen Stimmen und Stimmungen während der schwierigen Zeit aufzufangen und zu dokumentieren.

Gezeigt werden Situationen, in denen die Folgen der Corona-Pandemie beim Einzelnen ankommen. Zwei junge Lehrer etwa spielen auf der Schillerhöhe Boule. Sie vertreiben sich damit an der frischen Luft die Zeit, erzählen, wie sie ihren Beruf vermissen und dass sie vermehrt gärtnern oder eine liegen gebliebene Schallplattensammlung ordnen. Als Ein-Frau-Team gelingt es Willmann, den Gesprächspartnern ins Innere zu schauen – die Boulekugeln klacken aneinander, als die Männer von ihren Freiräumen erzählen. Solche Darstellungen sind eine Gratwanderung: „Man muss sich das Vertrauen als Dokumentarfilmer wie als Journalist immer wieder neu verdienen – es ist wie in Beziehungen“, erklärt die Filmemacherin. Gelungen ist ihr das auch beim Marbacher Landwirt Karl Bauer, der mit seiner Familie auf dem Wochenmarkt Obst, Eier und Nudeln in einer Umgebung verkauft, die in Zeiten von Corona ihre Selbstverständlichkeit verloren hat. Bauer zieht Quervergleiche zu der Zeit nach der Explosion des Kernreaktors in Tschernobyl, als seine Kirschen weder verzehrbar noch verkaufbar waren.

Unterwegs mit ihrer Kamera war Sabine Willmann aber auch bei den Demonstrationen in Stuttgart am 2. und 9. Mai. Erlebt habe sie ein breites Spektrum, vom jungen Mann, der seinen krebskranken Vater auf einer Palliativ-Station nicht besuchen darf bis zu Müttern und Vätern, die sich um das Kindeswohl sorgen. „Ich sehe es positiv, wenn Menschen in einer Demokratie für ihre Überzeugungen friedlich auf die Straße gehen“, sagt sie und kritisiert Medienberichte, in denen die Teilnehmer vorschnell in die Ecke linker oder rechter Extremer und Verschwörungstheoretiker gerückt wurden, nur weil sie sich für Grundrechte einsetzten. „Demokratie ist Arbeit und dazu gehört, sich mit Meinungen Andersdenkender auseinander zu setzen.“ Ihr gehe es darum, den Geist solcher Veranstaltung zu erfassen, ihn abzubilden und beim filmischen Geschichtenerzählen denen eine Plattform zu geben, die sie vor Ort trifft.

Auch wenn die Zeiten für freie Dokumentarfilmer aufgrund vieler abgesagter Projekte schwierig sind, entdeckt Sabine Willmann darin auch Positives. „Eine Religionslehrerin war traurig, dass sie ihre Klasse und ihre Konfirmanden nicht unterrichten konnte – sie hat bei uns einiges über das Filmen gelernt, obwohl sie Berührungsängste mit der Technik hatte.“ Dann zu sehen, was am Ende daraus für die Lehrerin und ihre Schüler entstand, habe ihr gutgetan.

Weiterentwickeln möchte die Marbacherin ihre Kontakte zu einigen der Kollegen, die sich für die interaktive Coronography-Karte und im neu gegründeten Verein docfilmpool zusammengeschlossen haben. 417 000 Clicks zeigten ein großes Interesse am Storytelling über die Corona-Pandemie. „Wir stehen über Zoom-Konferenzen im Austausch – natürlich herrscht da zum Teil auch eine große Unsicherheit, wie es weitergeht, aber meinem Mann und mir geht es noch vergleichsweise gut, auch weil wir die Krise künstlerisch verarbeiten.“ Im Blick behält das Ehepaaar Willmann/Heise aber weiter fest das Filmprojekt zum Pacific Crest Trail, über das beim Talk-Format „Fische im Tee“ voraussichtlich am 5. Oktober im Café Provinz berichtet wird.