Der Brief von Schiller im eigenen Wohnzimmer – ein echtes Highlight. Foto: privat

Die Marbacherin Mechthild von Woedtke war 1957 als Au-pair-Mädchen in Paris. Genau diese Familie findet jetzt den verschollenen Brief des Dichters Friedrich Schiller.

Marbach - Manche Geschichten erscheinen so fantastisch, dass sie aus der Feder eines Romanautors geflossen sein könnten. So verhält es sich auch mit einem Brief, den vor 231 Jahren kein Geringerer als das deutschen Dichtergenie Friedrich Schiller verfasste. Er sandte ihn nach Frankreich ab – und das Dokument ist dort jetzt in einem Stapel alter Papiere in einem Koffer aufgetaucht. Wirkt der Fund im Ausland nach all den Jahren schon spektakulär, so mutet die Rückführung nach Marbach, in die Geburtsstadt des Dichters, wie von langer Hand geplant an.

Als Mittlerin fungiert Mechthild von Woedtke. Die heute 82-jährige Marbacherin absolvierte 1957 in Paris ein Jahr als Au-pair-Mädchen. Die damals 18-Jährige kümmerte sich um vier Kinder der Familie Dorget. Ihr Lieblingszögling, der zehnjährige Eric, mit dem sie viel unternahm, war es auch, der den alten Koffer der verstorbenen Eltern sichtete und den Schiller-Brief mit Hilfe seiner ehemaligen jungen Erzieherin zuordnen konnte.

Der Freund Schillers erlebte die Gräuel der Französischen Revolution.

Bei dem Brief handelt es sich um einen Teil der Korrespondenz, die Friedrich Schiller mit seinem früheren Kameraden von der Stuttgarter Karlsschule, Wilhelm von Wolzogen, führte. Der Freund hielt sich im Jahr 1790 im Auftrag des württembergischen Herzogs Carl Eugen in Paris auf und bekam die Wirren der Französischen Revolution mit. Schiller selbst, im Jahr 1792 wegen seines Sturm-und-Drang-Dramas „Die Räuber“ vom französischen Parlament zum Ehrenbürger ernannt, wandte sich bekanntlich später wegen der Gräuel der Revolutionäre ab. Im Brief an Wolzogen ging es aber vor allem um dessen persönliche Situation. Schiller hielt den Freund an, im Dienst für den Herzog durchzuhalten, bis er eine bessere Stelle in Aussicht habe, um zu wechseln.

Wie dieser Brief im Laufe der Jahre in den Besitz der Dorgets kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, erzählt Mechthild von Woedtke, die sich damals sehr gut in dem Haus mit 14 Zimmern aufgehoben wusste und auch nach dem Au-pair-Jahr den Kontakt hielt. „Die Familie war literarisch interessiert“, erinnert sie sich. So habe die Großmutter rauchend beim Kochen am Herd gestanden und Günther Grass’ „Der Butt“ gelesen. „Ich glaube aber nicht, dass sie wusste, dass sie einen Brief von Friedrich Schiller in ihrem Besitz hatte.“ Nach dem Tod der Großmutter zog die Familie in die Nähe von Versailles. Erst als Eric Dorget schließlich den großen Koffer zu sich in die Nähe von Le Mont-Saint-Michel nahm, kam der Brief zum Vorschein. „Er muss sehr akribisch vorgegangen sein und hat – ganz die Oma – Blatt für Blatt die Dinge geprüft.“

Schiller-Experte: „Ein solcher Fund kommt vielleicht alle fünf Jahre vor.“

Die Rücksprache Eric Dorgets mit Mechthild von Woedtke sicherte dann dem Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach den Erwerb. „Ich denke, er hat sich daran erinnert, dass er bei einem Besuch hier das Denkmal auf der Schillerhöhe sah“, erzählt Mechthild von Woedtke, die über einen Bekannten gleich den Schiller-Experten der Marbacher Institute, Helmuth Mojem, kontaktierte.

Obwohl der Verdacht nahe lag, dass es sich lediglich um ein Faksimile, also eine drucktechnische Nachbildung des Briefes, handeln könnte, war Mojem optimistisch, auf ein Original zu stoßen. „Der Brief war aus dem Nachlass von Caroline von Wolzogen heraus bereits wissenschaftlich erfasst“, erklärt der Germanist. Er sei froh, dass der Brief echt ist und in der Schillerstadt bleiben kann. „Ein solcher Fund eines bereits bekannten Briefes kommt vielleicht alle fünf Jahre vor.“

Bei Auktionen werden schon mal bis zu 30 000 Euro geboten.

Noch seltener sind Schillerbriefe, deren Existenz noch nicht bekannt ist. „Das kam bei mir bisher nur einmal vor“, erzählt Helmuth Mojem. Für einen derart seltenen Brief würden bei Auktionen 20  000 bis 30 000 Euro geboten.

Fast leichtfertig mutet es an, dass der Brief mit der normalen Post bei den von Woedtkes eintraf. Dass Eric Dorget seine Freundschaft mit Mechthild von Woedtke so viel bedeutet, dass er den Brief nach Marbach und nicht an einen Händler etwa in Frankreich gab, erfüllt die Marbacherin mit großer Dankbarkeit.

Doch was steht eigentlich in dem Brief von Schiller?



Freund in der Ferne soll durchhalten

Eigentlich steht Friedrich Schiller für Freiheit – er selbst floh  1782  vor Herzog Carl Eugen nach der Uraufführung von „Die Räuber“ nach Mannheim. Er bot damit dem despotischen „Schwabenkönig“, wie ihn Schiller im Brief an Wilhelm Wolzogen selbst nennt, die Stirn. Kein Wunder, denn   der Tyrann machte missliebige Kritiker mundtot, und das gerne auch durch Haft. Doch systemkritisch  wirkt Schiller in  jenem jetzt gefundenen Brief an Wilhelm Wolzogen aus dem Jahr 1790 nicht. Er rät dem alten Freund, eben nicht aus dem Dienst für Carl Eugen auszubrechen, sondern auf  eine günstige Gelegenheit für ein  neues Dienstverhältnis zu warten.

Offenbar stand Wilhelm von Wolzogen unter Druck. Er hatte Schiller aus dem revolutionsgeschüttelten Paris mitgeteilt,  den Dienst  für den absolutistischen Herrscher quittieren zu wollen. Hatte er Angst um sein Leben? „Man konnte als Adeliger in den 1790er-Jahren in Paris leicht an der nächsten Laterne aufgehängt werden“, erklärt Helmuth Mojem, Schiller-Experte am Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach. Zudem habe Wilhelm von Wolzogen selbst nicht so recht gewusst, wofür sein erster Aufenthalt für den Herzog dort von 1788 bis 1791  eigentlich gut sein sollte. 

Lebensklug und realistisch statt vergeistigt
Für den Leser heute etwas überraschend appelliert Schiller, der inzwischen beim Herzog von Weimar eine Professorenstelle für Geschichte in Jena gefunden hat, an Tugenden wie „Standhaftigkeit und Beharrlichkeit“. Diese Werte seien den  beiden Ex-Schülern aus der Philosophie der Stoa bekannt, erklärt Mojem mit seiner Chefin, der DLA-Direktorin Sandra Richter, in einem  gemeinsamen Beitrag, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 6. April mit der Überschrift „Schillers neostoische Standpauke“ veröffentlicht hat. Schiller wirke in seinen Dramen oft vergeistigt – in seinen Briefen lerne man ihn als lebensklug und realistisch kennen, so Mojem im Gespräch.

Schiller, der Anfang des Jahres 1790 Charlotte von Lengefeld geheiratet hatte,  schickte sich gerade an – protegiert durch Johann Wolfgang von Goethe –, als Gelehrter Fuß zu fassen. Seine Stellung war noch nicht gefestigt genug, um auch für seinen Freund Wilhelm von Wolzogen eine Stelle zu organisieren. Deshalb riet er ihm, nicht vorschnell seine Position aufzugeben. Wörtlich  solle er weiter „seinen Plan nicht aufgeben“, nicht „vor den ersten Schwierigkeiten“ zurückschrecken. Die Beharrlichkeit „macht uns zu dem, was aus uns werden kann“.

Ein Rat, der sich auszahlen wird
Das Warten sollte sich für Wilhelm von Wolzogen lohnen. Auf Fürsprache von Goethe wurde er Kammerherr und Kammerrat des Herzogs Carl Augusts in Weimar, berichten Mojem und Richter in ihrem Artikel. Außerdem stieg Wilhelm von Wolzogen zum Geheimen Rat der Obersten Landesbehörde auf. Dies habe er seinem diplomatischen Geschick zu verdanken. Obendrein heiratete er Carolin, die Schwester von Schillers Frau Charlotte, und blieb so seinem Jugendfreund noch stärker verbunden.

Die meisten Schiller-Briefe sind im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar, erklärt Helmuth Mojem dieser Zeitung. Der jetzt gefundene Brief sei Teil des Nachlasses, den Schillers Tochter Emilie erhielt, und  vor 170 Jahren gedruckt worden. Danach sei das Manuskript vom Konvolut der übrigen Dokumente abgesplittert – ebenso wie  vier weitere Briefe an Wilhelm von Wolzogen, deren Schicksal auch heute noch  unbekannt ist. Bereits in Marbach liegende Briefe wurden im Autografen-Handel erworben. Zwei sind nach Jena und Zürich gelangt.