Was ist moderner: Geschwindigkeit oder rumhängen? Foto: Schauspiel Stuttgart

Schöner Titel. „Denn sie wissen nicht, was wir tun“ nennt Schorsch Kamerun seine Konzertinstallation, die derzeit das Foyer des Stuttgarter Schauspiel­hauses als ein kunterbuntes ­Provisorium erscheinen lässt.

Schöner Titel. „Denn sie wissen nicht, was wir tun“ nennt Schorsch Kamerun seine Konzertinstallation, die derzeit das Foyer des Stuttgarter Schauspielhauses als ein kunterbuntes Provisorium erscheinen lässt.

Stuttgart - Der Sänger und Performance-Künstler kalkuliert klug mit der Überraschtheit seiner Gäste, da hat die Show noch gar nicht begonnen. Ja, wir wissen nicht, was Schorsch Kamerun tun wird. Völlig ahnungslos: So stand schon in den 1960er Jahren das Publikum den Aktionen der Fluxus-Künstler gegenüber. Kunst und Leben sollten darin zusammenfließen, wie der vom lateinischen Wort „fluere“ (fließen) abgeleitete Name der Bewegung andeutet.

Unwissend: So steht denn auch das Stuttgarter Publikum in einem engen Carré hinter den Eingangstüren des Schauspielhauses und wartet auf den Beginn der Performance. Rechts hinter der Absperrung sitzen die Musiker in einem kleinen Raum. Mit Schlagzeug, Synthesizer, Piano, einer treibenden Klarinette und dem klaren Gesang von Schorsch Kamerun werden sie 90 Minuten lang der unsichtbare, aber immer hörbare Motor dieser Installation sein.

Eine Hommage an die Fluxus-Künstler, deren Aktionen nebenan in der Staatsgalerie das Archiv Sohm dokumentiert, hat Schorsch Kamerun im Sinn. Und wie es sich bei einem solchen Anlass gehört, ist auch in seiner Wunderwelt alles ganz wunderbar im Fluss. Das Publikum allemal. Als es endlich losgelassen, darf es über Laufstege durch einen Nebel-Pflanzen-Dschungel eine Tour ins Staunen starten. Zu erkunden ist ein völlig veränderter Raum, wo vorher noch das frisch renovierte Schauspielhaus war. Ein scheinbar archäologisch wertvolles Mauerwerk hier, eine provisorische Bar dort, dazwischen Zeltkonstruktionen, viel Improvisiertes – und alles vielfach bespielt: Das Foyer des Schauspielhauses präsentiert sich wie eine Installation von Ilja Kabakow.

Ein Posaunenchor bläst Trauriges, ein Zelt tanzt, eine menschengroße Schnecke führt ihr beleuchtetes Haus spazieren, eine Filmemacherin und ein Duschgel-Pröbchen diskutieren im Fahrstuhl, eine Ganzkörperperücke spricht per Minibildschirmmund: Alles ist hier im Fluss, doch dem Zufall ist dabei nichts überlassen. Schorsch Kamerun weiß, dass Grenzüberschreitungen zum Fluxus-Spiel gehören, ins Philosophische, aber auch ins Politische.

Und so gibt uns der Performance-Punker einiges zu denken auf, hinterfragt Bonussysteme, Optimierungswahn, Erlebnishunger. „Wegdrehen? Zwecklos“, rügt seine Stimme aus dem Hintergrund. „Die Eingeborenen wissen das: In Stuttgart dreht sich der Stern. Sonst gar nichts.“

Was ist wichtiger: Erlebnis oder Ergebnis? Was ist moderner: Geschwindigkeit oder rumhängen? Schorsch Kamerun sagt, dass der Mensch ankommen und sich auskennen will – und spielt mit der Irritation. „Ist das eine Baustelle oder eine Bar?“ Draußen hinterm Bahnhof lässt sich das nicht immer so leicht beantworten. Drinnen im Schauspielhaus schon: Um 21.41 Uhr gibt es Freibier, dann fokussiert sich dieses wandelnde Konzert zusehends, bis sich einer auf die echte Bühne vorwagt. Am Ende, als auch Occupy und Stuttgart 21 genannt sind, bekommt der Titel des Abends im Angesicht möglicher Protestbewegungen einen drohenden Unterton: Denn sie wissen nicht, was wir tun.