Großbritannien Foto: dpa/Michael Kappeler

Adelheid Schick lebt seit 30 Jahren in London. Als Deutsche erlebt sie den EU-Austritt hautnah. Ihre Eindrücke und Meinung zum Brexit schildert sie im Interview.

Marbach/London - Die große Politik spiegelt sich in Einzelschicksalen. Die gebürtige Marbacherin Adelheid Schick arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten als Wirtschaftsprüferin in Großbritannien. Wie sie den Austritt der Briten aus der Europäischen Union und das Drumherum um den Brexit erlebt, erzählt die 56-Jährige im Gespräch.

Was hat Sie nach England gezogen?

Mein Vater ist Englischlehrer gewesen, wir haben uns immer mit England beschäftigt, ich selbst nahm 1979 an einem Schüleraustausch teil. Als ich nach dem Abitur ein Jahr in Frankreich war, wusste ich: Die Engländer liegen mir mehr. Und so habe ich nach dem Volkswirtschaftsstudium dort zu arbeiten begonnen. Was am Anfang schon etwas witzig war, da mein Vorname Adelheid Wortschöpfungen wie „Edelweiß“ oder „Heidelberg“ hervorrief.

Und Sie sind lange in dem Land geblieben. Spüren Sie durch den Brexit jetzt Gegenwind?

Im Alltag wenig. Meine Freunde sind alle Brexit-Gegner und frustriert. Sie können sich nicht mehr problemlos irgendwo in Europa niederlassen, ich schon. Man nimmt der nächsten Generation eine Menge Möglichkeiten.

Es ging um den Brexit lange hin und her. Hat der Konflikt für Unruhe im Alltag in London gesorgt?

Auf jeden Fall. Der Entscheid war ja mit 52 zu 48 Prozent schon sehr knapp. Ich habe das Gefühl, dass diese starke Minderheit überhaupt nicht mehr gehört wird – was auch an der von Rupert Murdoch dominierten Presselandschaft mit Privatmedien wie Sky oder The Sun liegt. Zu denken gab mir, als einmal in der Nähe meiner Wohnung in drei bis vier Straßenzügen sämtliche Autos deutscher Hersteller beschädigt wurden. Es ist wie mit dem Rassismus in Deutschland. Wer wie die AfD Hass sät, muss sich nicht wundern, wenn daraus Taten werden.

Fühlen Sie sich nach der langen Zeit in London nicht auch ein bisschen als Britin?

Nein, ich bin überzeugte Europäerin. Wenn man im Ausland lebt, wird man sich außerdem seiner eigenen Nationalität bewusster. Insofern stehe ich zu meiner deutschen Herkunft und möchte meinen roten EU-Pass behalten. Würde ich noch den blauen britischen erwerben, worauf ich ein Anrecht hätte, müsste ich um die 1300 Pfund zahlen und eine Menge Formalitäten erledigen. Außerdem wäre es für mich als Demokratin ein Unding, einer Königin Untertan zu sein.

Sie dürfen aber nach dem Brexit schon noch weiter in London ohne Visum wohnen und arbeiten?

Natürlich, ja. Wenn man fünf Jahre lang in Großbritannien gearbeitet hat, ist man dazu berechtigt. Man muss sich für den „settled status“ registrieren lassen, was über eine App geht – wobei mir auffiel, dass es zunächst nur auf Android-, nicht aber auf Apple-Geräten funktionierte.

Wie belastend ist es für Sie, in einem Land zu leben, das sich abschottet?

Wie gesagt, ich bin überzeugte Europäerin. Die Briten sind offen, der Brexit ist Ideologie. Die EU ist eine großartige Sache. Das Commonwealth kann kein Ersatz dafür sein. Wenn ich an meinen Ruhestand denke, orientiere ich mich eher an Europa als Lebensort, nicht an Großbritannien.

Verstehen Sie den Wunsch der Briten nach Unabhängigkeit und einer starken eigenen Währung?

Na ja, das Pfund hat seit 2016 etwa 20  Prozent seines Wertes eingebüßt. Es sank immer, wenn die Gefahr eines No-Deal-Austritts akut wurde. Die Briten haben den Euro nie akzeptiert. Dabei ist die EU viel mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, sie ist auch eine Wertegemeinschaft. Leider spielt auch der Neid der Briten auf die produktive deutsche Industrie eine gewisse Rolle. So wurde argumentiert, dass Deutschland viermal so viele Autos nach Großbritannien exportiert, wie es von dort einführt.

Inwiefern ist das zu kurz gedacht?

Ich glaube nicht, dass es zu den blühenden Landschaften kommt, die auch schon Helmut Kohl den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung versprochen hat. Auch wenn sich Großbritannien als neues Singapur in Europa mit Steuererleichterungen profilieren will. Man muss sehen, dass die Wirtschaft auf der Insel zu 80 Prozent aus Dienstleistungsgewerbe besteht, und es zum Beispiel quasi keine eigene Autoindustrie mehr gibt. Wenn es Boris Johnson nicht gelingt, ein Handelsabkommen mit der EU hinzubekommen, droht meiner Meinung nach sogar langfristig ein Zerfall des Königreichs.

Warum befürchten Sie das?

Man sagt den Nordiren eine Zollunion mit Irland zu, den Schotten verwehrt man eine solche Union mit der EU. Was auch an dem Umstand liegt, dass Iren und Nordiren nach dem Friedensabkommen zum beendeten Bürgerkrieg einen Volksentscheid darüber treffen könnten, ob sie sich wiedervereinigen wollen.

Gewinnen die Engländer den Deutschen überhaupt etwas Positives ab, oder sind wir in ihren Augen immer noch eine Horde humorloser Handtuchhinleger?

(lacht) Oh ja, das mit den Handtüchern werden wir nicht mehr los, und es gibt ja noch immer genug Zeitgenossen, die dieses Vorurteil in Hotels und auf Schiffen bestätigen. Nein, ich glaube, die Engländer schätzen unsere Technik und den Fleiß.

Und gönnen uns, wenn wir bei der Fußball-WM rausfliegen.

Das haben sie bei der WM in Russland in der Tat mit großer Schadenfreude getan. Aber nach dem Sieg in Wembley 1966 ist ihnen ja auch nicht mehr viel gelungen. Als ich mit einer Freundin während der WM in Italien 1990 in einem Pub war und wir im Elfmeterschießen gegen England gewannen, sind wir ganz leise geblieben und haben das Lokal schnell verlassen.