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Jagdpächter Erik Müller nimmt uns mit auf einen nächtlichen Streifzug durchs Revier.

Großbottwar-Winzerhausen - Es ist 23 Uhr. Am Wunnenstein ist es, abgesehen vom Rauschen der A 81 und von zirpenden Grillen, mucksmäuschenstill. Der Vollmond erhellt die Nacht. Die markante Linde an der Landstraße, unser Treffpunkt, wirkt mystisch. Es ist trocken, ein leichter Wind weht. Perfekte Bedingungen für Jagdpächter Erik Müller, einen Streifzug durch das Revier zu unternehmen, das er sich hier mit einem zweiten Jagdpächter teilt und in dem fünf weitere Jäger mitwirken. Das Gebiet um den Wunnenstein erstreckt sich bis zum Autobahnzubringer Mundelsheim, fast bis Auenstein und zum Köchersberg. Es sei vorweggenommen, dass der 58-Jährige zweieinhalb Stunden später sagen wird: „Es war ein guter Tag!“ Denn auf der Tour, bei der ich mich einklinken darf, um einen Eindruck zu gewinnen, wie viel nachts los ist, werden wir viele Tiere sehen. Mehr als ich für möglich gehalten hätte.

Bevor es losgeht, ziehe ich meine Jacke aus. „Die raschelt“, macht Müller deutlich. Wir wollen ja leise sein. Zum Glück reicht mein Pullover aus. Das Gebiet fahren wir mit dem Auto ab. „Die Tiere sind an das Geräusch gewöhnt“, meint der Jäger. Und es geht, für mich überraschend, nicht in den Wald, sondern an die Felder und Wiesen drumherum. „Im Wald ist es zu dunkel. Selbst bei Vollmond, der lange Schatten wirft. Zurzeit jagen wir auch nicht im Wald. Dorthin ziehen sich die Wildschweine zurück – wir sind gottfroh, wenn sie da bleiben.“ Doch oft genug kommen sie heraus, um Ähren zu fressen. Der Schaden sei dieses Jahr extrem. Erstmals werde sogar Gerste gefressen. „Das machen Wildschweine sonst nicht, weil das stichelt und juckt.“ Doch weil es so trocken ist, suchen sie Flüssigkeit. Auch Mais fressen sie – indem sie die Saatreihe regelrecht entlangpflügen. „Sie sind erst satt, wenn die Reihe durch ist.“ Schäden werden mit der Drohne vermessen. Für die Entschädigung an den Landwirt kommt der Jagdpächter auf. „Manchmal übersteigt der Schaden die Jagdpacht um ein Vielfaches.“

Warum Erik Müller später von einer guten Tour sprechen wird, offenbart sich bereits, als wir nach 300 Metern Richtung Abstetterhof an einem Feldweg halten. Der Jäger schaltet Motor und Scheinwerfer aus, die Türen bleiben offen, um Lärm zu vermeiden. Müller blickt durch die Wärmebildkamera – um sie dann mir in die Hand zu drücken. „Hinten am Waldrand. Schau mal, was los ist“, flüstert er. Mit meinem rechten Auge sehe ich, wie warme Objekte heller dargestellt werden als kalte. Häuser sind zu erkennen, ein einsam seine Runden drehender Traktor leuchtet wie ein Christbaum. Auf einer Wiese entdecke ich helle Punkte. Fünf Rehe, deren Kontur klar zu erkennen ist, fressen. 500 Meter dürften sie entfernt sein. Auch eine benachbarte Lichtung suchen wir ab – und siehe da: fünf weitere Rehe! Sie stehen keine 100 Meter vor uns. Mit gespitzten Ohren blickt eines der Tiere in unsere Richtung, frisst dann weiter. „Um schießen zu können, müsste ich die Entfernung mindestens halbieren“, sagt mein Begleiter.

Doch sein Gewehr führt er heute nicht bei sich. Sowieso: Rehwild darf er zu dieser Jahreszeit nicht schießen. „Und wenn ich es darf, sehe ich es nicht mehr. Denn es kommt im Herbst später aus dem Wald und geht früher wieder rein.“ Kunstlicht ist beim Jagen verboten, beim Anpirschen hilft es aber. Um ein Wildschwein erlegen zu können, muss sich Müller daher auch mal auf herkömmliche Weise annähern. „Dann stehst du sockig in der Suhle“, sagt er lachend. Früher habe man aber stundenlang auf dem Hochsitz gesessen und gewartet. Heute mit ist das einfacher. „Untereinander verständigen wir uns auch per WhatsApp, wer auf welchen Hochsitz klettert.“ Drei Kilometer weit kann man sehen, bis zu einem Kilometer erkennen, was für ein Tier es ist. Das erspart Fahrten. „Wo nichts ist, kann man nichts angehen. So bringen wir auch weniger Unruhe ins Revier.“

Seit 2008, seit seine Kinder „aus dem Gröbsten raus sind“, ist der 58-Jährige Jäger. Die Faszination für den Wald war immer da – betrieb sein Großvater doch ein Sägewerk in der Fränkischen Schweiz. „Ich bin im Wald aufgewachsen.“ Sein Hobby, das der Solo-Selbstständige nebenher ausübt, perfektionierte er. Seine Jagdmesser schmiedet er selbst, das Fleisch für den Eigenbedarf verwertet er. Und dann ist da das Jagen. „Ein Jäger, der sagt, ihm sei das Jagen nicht wichtig, der lügt“, ist er überzeugt. Er sei ein Fleisch-, kein Trophäenjäger. „Es ist mir wichtig, woher das Fleisch kommt, das ich esse. Ich weiß, wo das Tier gelebt hat, was es gefressen hat, wann es erlegt wurde. Und das Tier, das ich schieße, ist bis zur letzten Sekunde glücklich. Da ist kein Adrenalin im Fleisch, es fällt einfach um.“ Entsprechend sei Wildfleisch „das beste Fleisch der Welt“.

Das Landratsamt gibt ihm vor, welche Abschussquote er und sein Team pro Jahr zu erfüllen haben. Die sei wichtig, um Schäden gering zu halten und die Population des Niederwilds zu stabilisieren. Gibt es zu viele Füchse, schwinden Vögel und Hasen. Gleichzeitig bekommt der Fuchs Räude, woran er qualvoll verenden kann. Bei Rehwild sind es 20 Tiere im Jahr. „Künftig wird das mehr sein, da wir viel Rehwild haben.“ Auch Wildschweine gibt es reichlich. 60 Exemplare im Revier, schätzt Erik Müller, die Frischlinge nicht eingerechnet. Über Nacht machen sie viel Strecke, teils zehn Kilometer am Stück. Das Nahrungsangebot ist riesig. Selbst Frischlingsbachen, die kein Jahr alt sind, sind bereits trächtig. Bei Wildschweinen wird deshalb geschossen, was geht. Erlegt werden dürfen keine Muttertiere, aber trächtige Säue. „Aber auch das macht keinen Spaß“, so Müller, der sogar mal ein 130-Kilogramm-Exemplar erlegte. Meist wird das Tier auch direkt im Wald aufgeschnitten. „Keime im toten Körper vermehren sich exponentiell“, so der Grund. Das meiste Fleisch verwerten die Jagdpächter und Jäger selbst zu Wurst, Steak, Schinken oder Braten. Was an die Gastronomie geht, verwertet der Metzger. „Seit Corona ist das nicht mehr viel. In der Zeit haben wir selbst viel Wurst gemacht.“

Wir sind zurück am Auto und suchen noch mal die vorherige Lichtung ab. Inzwischen fressen hier, 150 Meter entfernt, zwei Wildschweine am Feld, ein drittes kommt aus dem Wald gerannt. Diesmal blicke ich durch ein Nachtsichtgerät mit Infrarotstrahler. Die Landschaft erscheint hell, die Tiere als dunkler Fleck. Wir steigen ins Auto. Über Feldwege geht es weiter. Beim nächsten Halt zwischen Feld und Streuobstwiese ist noch mehr los. Auf dem Feld steht ein Reh, mit gespitzten Ohren blickt es zu uns. Vom Horizont kommt ein Feldhase angehoppelt und bleibt direkt vor dem Reh stehen. Er blickt ebenfalls zu uns, seine Löffel stehen zum Himmel – welch ein Anblick!

Ich drehe mich um, suche durchs Objektiv die Streuobstwiese ab. Drei weitere Rehe halten sich hier auf, 20 Meter vor uns. Dahinter am Waldrand sitzt vermutlich ein Fuchs – der helle Punkt ist zu klein, um Details zu erkennen. „Es ist schön, denen beim Mäusejagen zuzusehen. Die hüpfen richtig übers Feld“, sagt Erik Müller, der keine jungen Füchse schießt. „Die sind wie Kuscheltiere. Das bringe ich nicht übers Herz.“ Auch Feldhasen schießt er nicht, da es wenige gibt.

Dann wird es wildromantisch: Aus dem Wald vor uns sind jetzt aus zwei Richtungen laute Geräusche zu hören. Wie ein Hundebellen, das durch den Wald und über die Lichtung hallt. „Das sind zwei Rehböcke, die schrecken. Das hört man tagsüber nicht so“, sagt Erik Müller. Die Böcke seien sauer aufeinander. „Vielleicht stecken sie ihr Revier ab. Durch den milden Winter passiert dieses Jahr alles deutlich früher.“ Sekunden später rennen alle Rehe vor uns in den Wald – als wollten sie Augenzeugen des Streits sein.

Beim nächsten Stopp fressen sechs Wildschweine im Feld vor uns. Wir nähern uns, werden aber gehört – die Tiere flüchten. Das Rascheln im hochstehenden Feld ist gut zu hören. Also geht’s weiter Richtung Autobahn und Holzweiler Hof. Wir laufen auch durch eine stockfinstere A81-Unterführung, doch Tiere sind dahinter nicht zu sehen. „Die Natur hier ist sehr schön, gerade am Faulbach. Nur ist die Autobahn sehr laut, was aber das Jagen natürlich sehr effektiv macht.“

Während wir zurück zum Wunnenstein fahren, berichtet Erik Müller von seinen Aufgaben. Nur in der Schonzeit im März und April werde nicht gejagt. Meist verbringt er eine Nacht pro Woche draußen, unterwegs ist er dann bis 2, 3 Uhr. Mal steht auch Hasenzählen an, mal gilt es nach Stürmen Wege freizusägen. Mal sind Aufforstungsmaßnahmen zu begleiten, mal bringt ihm ein Bauer ein Kitz vorbei, das beim Mähen angefahren wurde. Und jederzeit kann das Handy klingeln: Wenn ein Fahrzeug ein Wildtier erwischt, wird Müller hinzugerufen, um das Wild zu entfernen und manchmal einen Unfallbericht für die Versicherung zu schreiben. Solches Fleisch wird meist zu Hundefutter. Freuen dürfen sich darüber die beiden Jagdhunde Müllers, die tagsüber seine Begleiter sind.

Es bereite ihm aber auch Spaß, auch so mal eine Nacht im Revier zu verbringen und zu beobachten, schildert Erik Müller. Gerne mit einem Bierchen. Dann gibt es auch Dachse, Goldschakale und Waschbären zu sehen. Kein Wunder, dass er sagt: „Manchmal ist es wie im Zoo. Dann bin ich schockiert ob der Menge an Tieren.“