Das Beispiel Tübingen zeigt, dass vieles möglich ist. Foto: dpa

Die Coronastrategie des Tübinger OB hätte Nachahmer verdient. Er erinnert in manchem an seinen Vater.

Marbach/Bottwartal - Es gibt Szenen aus der eigenen Kindheit, die vergisst man nicht. Szenen, die das junge Mädchen verängstigt haben, die alternde Frau im Rückblick jedoch zum Schmunzeln bringen. Und Szenen, an die ich immer dann erinnert werde, wenn der Tübinger Oberbürgermeister von sich reden macht. Und das macht er ja häufig.

Boris Palmer ist im selben Ort im Remstal aufgewachsen wie ich. Das Haus seiner Eltern stand in Geradstetten auf der einen Seite der Bundesstraße, das meiner Eltern auf der anderen. Sein Vater, der Remstalrebell, war über das Tal hinaus bekannt. Mein Vater, der Leiter der großen Lokalzeitung des Remstals, ebenfalls. Auf der einen Seite der Obstbauer und Kämpfer für Gerechtigkeit, auf der anderen Seite der Weinpionier und Journalist. Die beiden kannten und schätzten sich – irgendwie. Aber sie fochten auch unzählige Meinungskämpfe miteinander aus.

Mehr als einmal stand Helmut Palmer vor unserem Haus und brüllte sich aus Zorn über eine aus seiner Sicht ungerechte Berichterstattung die Seele aus dem Leib. Ich weiß noch, wie ich als kleines Kind am Fenster stand, Angst vor dem Mann draußen hatte und mich immer wieder bei meiner Mutter versicherte, dass er nicht reinkommen würde. Wenn die Wut des Landwirts und Marktbeschickers besonders groß war, konnte es vorkommen, dass er in unserem Briefkasten einen persönlichen Gruß hinterließ – in Form von fauligem Obst. An „Kreativität“ hat es dem Remstalrebellen nie gefehlt.

Helmut Palmer war ein streitbarer Mensch. Einer, der polarisierte, immer wieder mit der Justiz in Konflikt geriet, aber eben immer auch Klartext redete und seinen eigenen Weg ging. So wie sein Sohn. Er halte sich für kantig und nicht einfach, erklärte Boris Palmer in einem Interview vor ein paar Monaten. Eine Selbsteinschätzung, der ich nicht widerspreche. Ab und an stoßen mir seine politischen und vor allem verbalen Fehltritte sauer auf. Aber: Was er in puncto Coronaprävention auf die Beine gestellt und umgesetzt hat, verdient Respekt.

Shoppen, essen gehen, einen Film im Kino anschauen – in Tübingen ist das seit dieser Woche wieder möglich. Wer sich testen lässt und negativ ist, bekommt ein Tagesticket, mit dem der Besuch von Kunst- und Kultureinrichtungen, von Gaststätten et cetera möglich ist. Die engmaschige Teststrategie kommt bis Ostersonntag auf den Prüfstand. Das Land ist auf Palmers Sonderweg aufgesprungen und will zusammen mit der Stadt anhand des Modellprojekts „Öffnen mit Sicherheit“ neue Wege im Umgang mit der Pandemie erproben. Ich würde mir wünschen, wenn mehr Kollegen Palmers Mut, seine Kreativität und seinen Biss hätten. Vieles ist möglich, was unmöglich erscheint. Auch in kleineren Kommunen.