Im Eisstädtchen sind Figuren und ganze Gebäude aus Eisblöcken errichtet worden. Foto: Stephanie Nagel

In Russland kann man bei eisigen Temperaturen buchstäblich ins neue Jahr rutschen.

Murr/Nowosibirsk - N

ach dem starken Schneefall in den vergangenen Tagen ist es ein Wunder, dass in der letzten Nacht des Jahres der Mond an einem klaren Himmel scheint. Die Stelle, an der ich die Straße überqueren will, ist von einem Betrunkenen besetzt, auf den eine Polizeistreife einredet. Dies wird aber entgegen vieler Vorstellungen bezüglich des Wodkakonsums der einzige Zwischenfall des Abends bleiben. Bei minus 25 Grad mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten Silvester in Russland. Auch für Nowosibirsk ist dieses Silvester ein besonderes, denn es wird zum 125. Mal gefeiert. Bereits vor einigen Tagen wurden die Straßen dafür dekoriert. Die relativ junge Stadt wurde erst 1893 beim Bau der Transsibirischen Eisenbahn gegründet. Inzwischen ist sie mit 1,5 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Russlands. Mit der Metro fahre ich über den Fluss Ob, der etwa 900 Meter breit und derzeit größtenteils zugefroren ist.

Auf der anderen Uferseite bin ich mit Tatyana Gorokhova verabredet. Sie ist Bibliothekarin im Deutschen Lesesaal und hat mich eingeladen, zusammen mit ihr Silvester zu feiern. Der Deutsche Lesesaal ist nur eine von vielen Einrichtungen mit Deutschlandbezug in der sibirischen Metropole. Rund 5000 Kilometer von Deutschland entfernt gibt es ein Goethe-Institut, ein Generalkonsulat und ein Russisch-Deutsches Haus zum Erhalt der Kultur der Russlanddeutschen.

Tatyana und ihre Eltern, Igor Petrowitsch und Lyudmila Iwanowna, möchten mit mir zunächst das Eisstädtchen an der Uferpromenade besuchen. Unter dem Motto „Zu Gast im Märchen“ wurden zahlreiche Eisskulpturen geschaffen, die nachts in verschiedenen Farben beleuchtet werden. Das Beste ist aber die Eisrutschbahn, die nicht nur Kindern großes Vergnügen bereitet. Und schon sitze ich auf einem Rodelteller. Vorsichtig rutsche ich los und werde immer schneller. Durch das Plastik spürt man jede Erschütterung. Dann geht es durch eine langgezogene Kurve und schon lande ich am Ende der Bahn im Schnee. Vom Fluss steigt immer mehr Nebel auf. Die Feuchtigkeit gefriert sofort und überzieht Kleidung und Haare mit einer weißen Schicht. Nach etwa einer Stunde haben wir genug und fahren mit dem Taxi zu Tatyana nach Hause.

Dort wartet bereits ein gedeckter Tisch auf uns. Im Fernsehen laufen Filme aus der Sowjetzeit, die immer an Silvester gezeigt werden. Als das Ende des Jahres näher rückt, darf die Neujahrsansprache von Präsident Wladimir Putin nicht fehlen. Da sich Russland über elf Zeitzonen erstreckt, wird sie im Voraus aufgezeichnet und entsprechend ausgestrahlt. Als es darum geht, dass wir dank der modernen Technik unsere Gefühle mit lieben Menschen teilen können, die tausende Kilometer entfernt sind, müssen wir lachen. Denn parallel dazu unterhalten wir uns mit Tatyanas beiden Schwestern in Deutschland und die Eltern zeigen ihnen Geschenke. Auch an mich wurde gedacht und ich bekomme Süßigkeiten und ein Paar Socken mit Snegurotschka als Motiv. Dieses blau-weiße Schneemädchen bringt zusammen mit Djed Moros, dem Väterchen Frost, in Russland die Geschenke. Während in Deutschland Weihnachten das wichtigste Fest ist, kommt in Russland Silvester die größte Bedeutung zu. Auch Tannenbäume werden erst gegen Neujahr aufgestellt. Das Weihnachten am 24. Dezember feiern lediglich Katholiken und Protestanten.

Am Ende des Jahres findet zudem am Arbeitsplatz ein Korporatiw statt, eine Jahresfeier mit den Kollegen. Beabsichtigt bis spontan bin ich in diesem Jahr gleich auf drei davon geraten. In der ersten Januarwoche haben dann viele frei. Wer es darauf anlegt, kann in Russland um den Jahreswechsel insgesamt viermal feiern. Denn im Zuge der Revolution wurde 1918 der julianische Kalender durch den gregorianischen ersetzt, die russisch-orthodoxe Kirche hat jedoch den alten Kalender beibehalten. Da sich dieser um 13 Tage unterscheidet, wird in Russland erst am 7. Januar Weihnachten und am 13. Januar das „alte Neue Jahr“ begangen.