Unermüdlich werden die Weihrauchfässer geschwungen. Foto: Stephanie Nagel

Stephanie Nagel aus Murr lebt derzeit in Nowosibirisk. Dort verwendet die Ostkirche eine andere Berechnungsweise – und so fallen auch die Feiertage anders.

Murr/Nowosibirsk - Vor der Alexander-Newski-Kirche drängen sich am Karsamstag Menschen um lange Tische und stapeln gefärbte Ostereier und Süßspeisen. Darunter sind Brote mit Zuckerglasur, deren Form ein wenig an Panettone erinnert. Es ist der Kulitsch, der zu Ostern aus süßem Hefeteig und Rosinen gebacken wird. Außerdem eine pyramidenförmige Quarkspeise, die genauso heißt wie Ostern auf Russisch, nämlich Pas’cha. Oft wird sie mit den kyrillischen Buchstaben XB für „Christos Woskrese“ verziert, also „Christus ist auferstanden“.

Dünne gelbe Wachskerzen werden in die Speisen gesteckt und angezündet. Dann erscheint der Priester, um das Essen und die umstehenden Menschen mit Weihwasser zu besprengen. Allerdings werden die Speisen danach nicht etwa gegessen, sondern wieder sorgsam in Plastiktüten, Körben und Kartons verstaut. Verzehrt werden sie erst am kommenden Tag. Der Ostersonntag ist auch in der russisch-orthodoxen Kirche der höchste Feiertag. Doch da die Ostkirche eine andere Berechnungsweise verwendet als die Westkirche, kann das Osterfest bis zu fünf Wochen später stattfinden als in Deutschland.

Um die Himmelfahrtskathedrale weiter im Norden der Stadt kann man das gleiche Schauspiel in größerem Maßstab beobachten. Bereits vor dem Betreten des Kirchengeländes schlagen viele der Gläubigen das Kreuz, dann noch einmal vor der Kirche selbst. Im Inneren stehen sie Schlange, um sich vor einer bestimmten Ikone zu bekreuzigen. Beim Hinausgehen wird das Ganze in umgekehrter Reihenfolge wiederholt. Doch wie viel Disziplin sie haben, wird sich noch deutlicher in der Osternacht zeigen. Das Gebet beginnt eine halbe Stunde vor Mitternacht, dann wird das Kreuz um die Kirche getragen. Der anschließende Gottesdienst kann bis halb drei dauern. Und das alles im Stehen, denn in russischen Kirchen gibt es keine Bänke.

Am Ostersonntag ist es um die Mittagszeit im Stadtzentrum außergewöhnlich ruhig. Ein großes Stück der Hauptstraße wurde für die Kreuzprozession gesperrt, alle Einmündungen mit schweren Fahrzeugen blockiert. In einigem Abstand geht ein Polizist mit einem Spürhund voran. Aus der Ferne ist schon das Glockenläuten zu hören. Dann weht ein Hauch von Weihrauch durch die Straße und Geistliche in hellem Rot und Gold kommen in Sicht. In der Mitte wird das Kreuz getragen, zu beiden Seiten eine Laterne, dahinter Ikonen und Banner in leuchtenden Farben. Über den nachfolgenden Menschen wehen rote und weiße Luftballons. Umrahmt wird die Menge von weiteren Geistlichen, die Weihrauchfässer schwingen. Drei Kilometer werden sie so durch Nowosibirsk ziehen – von der Himmelfahrtskathedrale bis zur Alexander-Newski-Kirche.

Immer mal wieder ruft jemand „Christus ist auferstanden!“, worauf die anderen lauthals mit „Er ist wahrhaftig auferstanden!“ antworten. Hin und wieder singen die Menschen im Chor. An der Kapelle des Heiligen Nikolaus, die wie eine Insel in der Mitte der Straße steht, wird für eine Andacht halt gemacht. Danach zieht die Menge weiter. Wie viele Teilnehmer es in diesem Jahr sind, ist schwer zu sagen, da sich der Prozession ständig neue anschließen. Im vergangenen Jahr sollen es über 13 000 gewesen sein. Aber selbst ein Bruchteil davon wäre in einem Land, in dem noch vor 30 Jahren der Atheismus forciert wurde, beachtlich.

Doch nicht alle sind in Feierstimmung. Als der Verkehr schon wieder fließt, steht am Straßenrand eine einzelne Frau. In ihren Händen hält sie ein Plakat mit der Aufschrift „Putin ist Russlands Unglück“. Darunter hat sie alle Ereignisse aufgelistet, bei denen der amtierende Präsident ihrer Meinung nach versagt hat – von den Kriegen in Tschetschenien über den Untergang des U-Bootes „Kursk“ bis hin zum Brand des Einkaufszentrums „Winterkirsche“ in der sibirischen Stadt Kemerowo.