Foto: Phillip Weingand

Fasching steht vor der Tür, und die Carnevalsfreunde Murr trainieren schon fleißig. Vor allem die Gardetänzerinnen proben hinter den Kulissen hart.

Murr - Immer weiter streckt Leoni ihr rechtes Bein nach oben, während sie sich mit dem Rücken an die Wand der Murrer Gemeindehalle lehnt. Ihre Trainerin Vanessa Kühn hilft ihr beim Dehnen – bis Leonis Fuß über ihrem Kopf die Wand berührt. Tut das nicht weh? Leoni schüttelt den Kopf. Dann beginnt sie damit, ihren Tanz zu üben. Die Murrerin ist erst acht Jahre alt, doch schon bald wird sie alleine vor hunderten Zuschauern stehen. Denn sie ist Tanzmariechen, eine von drei Solistinnen der Carnevalsfreunde Murr.

Einige Meter weiter schwingen sich sechs Tänzerinnen im Alter zwischen 14  und 18 Jahren übers Parkett. Auch für ihre Tanzgarde, die Murrtalfunken, bedeutet die Faschingssaison jede Menge Arbeit. Gerade trainieren sie einen sogenannten Showtanz. „Damit wollen wir immer eine Geschichte erzählen. In diesem Jahr geht es um einen Boxkampf“, erklärt Vanessa Kühn. Sie und Trainerin Sarah Väth hatten bei der Choreografie viel Freiraum und ließen neben Marsch- auch Hip-Hop-Elemente mit einfließen. Die jugendlichen Tänzerinnen haben sichtlich Spaß daran, ihr Tanz erzählt von Niederlage, hartem Training und schließlich vom Triumph. Ein bisschen wie der Film „Rocky“ – aber mit Hebefiguren. Als die Mädchen mit ihrem Programm durch sind, sind sie schweißnass und aus der Puste. „Das ist echter Leistungssport“, meint Sibylle Szüsz, die Zweite Vizepräsidentin der Carnevalsfreunde. „Von der nötigen Kondition her kann man den Gardetanz mit ständigem Seilspringen vergleichen.“ Nur kommt noch die Kopfarbeit dazu. Denn gerade beim Schau- und Marschtanz kommt es darauf an, dass die Choreografie sitzt und keines der Mädchen aus der Reihe tanzt. Jährlich muss eine Gardetänzerin für Training und Auftritte etwa 220 bis 250 Stunden Freizeit opfern. Wer einmal wie die Tanzmariechen Leoni Vogel, Vanessa Kühn und Rabea Burkhard solo vor Publikum auftreten will, braucht besonders große Begabung und einen eisernen Willen. „Meist brauchen wir etwa ein Jahr, um besondere Talente zu entdecken“, erklärt Sibylle Szüsz. Oft fangen die Tänzerinnen schon sehr früh an. Leoni hat zum Beispiel mit vier Jahren bei den Sternschnuppen begonnen, dann ging es weiter bei den Roten Sternchen, inzwischen tanzt sie bei den Roten Fünkchen. Die mit20 Jahren älteste aktive Tänzerin ist ihre Trainerin Vanessa Kühn. Auch sie hat schon als kleines Mädchen mit dem Tanzen begonnen.

Seinen Ursprung hatte der Gardetanz in den 1920er- und 1930er-Jahren in den Girlgruppen der Revuetheater. Auch die Kleidung, die die Tänzerinnen bei den Auftritten tragen, hat Tradition: Weste, Rock, Hut und Tanzstiefel vieler Tanzgarden orientieren sich an Uniformen aus dem 18. Jahrhundert. Doch Musik und Choreografien wandeln sich mit der Zeit.

Für die Murrer Tanzgarden gibt es zwei Höhepunkte der Faschingssaison. Der erste ist der 11. November. Im Publikum sitzen dann auch Vertreter befreundeter Karnevalsvereine. „Nach diesen Auftritten kommen dann die Anfragen: Können wir euer Tanzmariechen haben? Würde die Showtanzgruppe bei uns auftreten?“, erklärt Sibylle Szüsz. Und das zweite Highlight sind dann vier „tolle Tage“ Mitte Februar. Am Rosenmontag etwa machen die Tänzerinnen eine Tour durch Steinheim, Erdmannhausen und Benningen, auch sonst kommen sie in dieser Saison viel herum und treten etwa in Korntal, Markgröningen, Vaihingen oder Sindelfingen auf.

Damit jeder Sprung und jeder Schritt sitzt, wenn es darauf ankommt, muss auch die kleine Leoni derzeit mehr als einmal pro Woche üben. Doch es lohnt sich: Als sie Sibylle Szüsz ihren Tanz vorführt und den besonders schwierigen Bogengang, einen Handstand mit anschließender Brücke, meistert, fängt die Vizepräsidentin an zu jubeln. „Toll gemacht“, ruft sie und nimmt Leoni ganz fest in den Arm. Auch sie war lange Zeit Gardetanz-Trainerin. Als sie den ganz jungen Gardemädchen, den Sternschnuppen und den Roten Sternchen, beim Training zusieht, wird sie fast etwas wehmütig: „Die Mütter von einigen Mädchen hier habe ich vor Jahren selbst trainiert“, erinnert sie sich. Diese Zeiten sind seit 14 Jahren vorbei, seitdem sitzt Szüsz im Elferrat und trainiert die Murr’mer Narren. Aber Szüsz weiß: Für tänzerischen Nachwuchs ist derzeit gesorgt. Und womöglich werden auch manche der kleinen Sternschnuppen, die gerade noch spielerisch lernen, im Takt zu laufen, eines Tages allein auf der Bühne stehen, während hunderte Zuschauer ihnen Beifall klatschen.