Im Gespräch (von links): Sandra Brock, Julia Spors, Catherine Kern, Beate Müller-Gemmeke und Oliver von Schaewen. Foto: Werner Kuhnle

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke kämpft für besseren Klimaschutz.

Marbach - In der Reihe der Redaktionsgespräche zur Bundestagswahl geht es weiter mit der Grünen-Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, die mit der Wahlkreis-Kandidatin Catherine Kern zu Gast war.

Julia Spors:
Sind Sie schon so richtig im Wettkampfmodus oder noch nicht?
Catherine Kern:
Ja, ich denke schon.
Beate Müller-Gemmeke:
Ich hatte am 2. Juli meinen Wahlkampfauftakt. Ich finde, die üblichen sechs Wochen sind zu wenig, ich möchte mehr machen.
Spors:
Zieht es so langsam an? Merkt man da was?
Müller-Gemmeke:
Der Ton wird so langsam rauer. Es kommen mehr Angriffe. Ich merke es vor Ort auch insofern, dass ich am Markt nicht mehr alleine stehe, sondern es auch Konkurrenten gibt.
Kern:
Anhand von den vielen Plakaten ist es auch ersichtlich, dass wir im Wahlkampf sind. Meine hängen noch nicht so sehr, wir wollten das eher in den letzten Wochen vor der Wahl machen. Ich finde diese vielen Plakate grenzwertig und teilweise eine Zumutung für die Menschen.
Spors:
Muss der Ton rauer werden, weil es bislang noch zu nett zugegangen ist?
Müller-Gemmeke:
Wahlkampf muss schon kämpferisch und leidenschaftlich sein, man muss schon überzeugen können, dass es einem ein Anliegen ist. Wobei ich nicht diejenige bin, die ganz raue Töne anschlägt.
Spors:
Sie sagen, man muss kämpfen: Für was kämpfen Sie?
Kern:
Wir kämpfen dafür, dass wir besseren Klimaschutz haben. Wir wollen ja die Energiewende weiter forcieren. Die Grünen haben damals eine Energiewende zustande gebracht. Im Moment merkt man immer weniger davon. Wir produzieren sehr viel CO2, mehr als in den 1990er-Jahren. Wir produzieren auch viel Kohleenergie. Da wollen wir auf jeden Fall auch ansetzen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn es zu einer Regierungsbildung kommt, wollen wir die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke abschalten und viel mehr in erneuerbare Energien stecken.
Spors:
Vom Jahr 2030 an setzen Sie aber auch auf abgasfreie Neuwagen. Die Themen gehören zusammen . . .
Kern:
Die Themen gehören entscheidend zusammen.
Spors:
Aber wird die Energiewende gerade vom Abgas-Skandal in den Hintergrund gerückt?
Kern:
Horst Seehofers Ankündigung, die CSU bildet nur eine Koalition mit Parteien, die den Verbrennungsmotor schützen wollen, das fand ich schon eine Aussage. Wir sind natürlich dafür, dass wir aus den Verbrennungsmotoren aussteigen. Ganz klar, wir wollen 2030 aus der Kohle raus. 2030 wollen wir aber auch die Produktion von Verbrennungsmotoren beenden. 2050 müssen wir 80 Prozent runter mit unserem CO2.
Spors:
Wie sieht es mit Fahrverboten für Dieselfahrzeuge aus?
Müller-Gemmeke:
Einerseits wollen wir emissionsfreie Autos. Wenn wir andererseits momentan über Dieselautos reden, dann geht es um die Gesundheit der Menschen. Stichwort: Stickoxid. Hier wollen wir, dass die Autoindustrie das einhält, was sie einhalten muss, nämlich EU-Grenzwerte. Dieselautos dürfen nicht manipuliert werden. Dieser Dieselgipfel war ja mehr oder weniger nur eine Witz-Veranstaltung von Verkehrsminister Dobrindt. Es bringt doch nichts, dass die Autoindustrie jetzt irgendwelche Software-Nachrüstungen macht, über die das Bundes-Umweltamt schon gesagt hat, dass sie nichts bringen. Wir fordern technische Nachrüstung auf Kosten der Hersteller, damit die Grenzwerte tatsächlich eingehalten werden.
Spors:
Was sagen Sie den Dieselfahrern von heute? Die AfD sagt, mit ihr wird es vor 2050 keinen Ausstieg geben . . .
Müller-Gemmeke:
Die AfD kann viel sagen. Wenn die Gerichte aber entsprechend urteilen, beispielsweise in Stuttgart, dann wird es Fahrverbote geben. Da kann die AfD daran nichts ändern. Vielmehr geht es erstmal darum, dass die Dieselfahrzeuge so ausgestattet werden, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Unser Ziel sind auch keine Fahrverbote. Die sind auch nicht notwendig, wenn die Grenzwerte eingehalten werden. Es liegt nicht an der Politik. Die Verantwortung liegt bei der Automobilindustrie.
Oliver von Schaewen:
Was machen Sie denn, wenn sich die Autoindustrie nach wie vor weigert, nachzurüsten?
Müller-Gemmeke:
Die Gesetze sind ja da. Deshalb wollen wir Gruppenklagen gesetzlich ermöglichen – wie in den USA beispielsweise, damit die Betroffenen die Hersteller verklagen können.
Von Schaewen:
Es wird ja auch immer wieder der Ausbau des ÖPNV als Alternative zum Individualverkehr genannt. Als kürzlich zwei Vertreter der Linken hier waren, haben sie Ministerpräsident Winfried Kretschmann den Vorwurf gemacht, dass er in den vergangenen Jahren viel zu wenig dafür getan hat, um den ÖPNV im Raum Stuttgart auszubauen. Stichwort Ringverkehr, Querverkehr etc. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass man zu wenig für den ÖPNV getan hat seitens der Landesregierung?
Kern:
Also wenn jemand wirklich etwas für den Verkehr tut, dann ist das unser Verkehrsminister Winfried Hermann. Er setzt sich da wirklich mit viel Energie ein. Es gibt vom Bund Regionalisierungsmittel. Das Geld fließt an die Länder und ist dazu da, bestehende Strecken bei den operativen Kosten zu unterstützen, weil das die Kommunen jährlich Millionen kostet. Das wurde für die damals bestehenden Strecken festgelegt. Kommunen, die neue Strecken betreiben, müssen für den Betrieb selber aufkommen, das heißt sie kommen nicht in den Genuss, von dem Geld etwas zu bekommen. Das würde beispielsweise für die Bottwartalbahn gelten. Verkehrsminister Hermann hat sich stark dafür eingesetzt, dass Regionalisierungsmittel erhöht werden und dass Neustrecken auch Regionalisierungsmittel bekommen.
Müller-Gemmeke:
Die Bundesregierung setzt ganz klar auf mehr Straßen statt auf Schiene, bei uns ist es andersherum – und da sehe ich den Bund in der Verantwortung. Die Bundesmittel für die Schiene sind zu gering, und sie wurden seit Jahren auch nicht erhöht.
Von Schaewen:
Wo würden Sie im Bundeshaushalt das Geld denn hernehmen?
Müller-Gemmeke:
Wir haben gute, sprudelnde Einnahmen, außerdem gibt es immer noch etwa 57 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen. Unsere Haushälter haben ausgerechnet, dass man zwölf Milliarden schnell streichen könnte. Und diese Mittel wollen wir in klimafreundliche Projekte investieren.
Spors:
Was hat es denn mit dem Mobil-Pass auf sich, mit dem die Grünen werben?
Müller-Gemmeke:
Es gibt 22 Netze in Baden-Württemberg und 137 Verbünde in ganz Deutschland. Das ist kompliziert. Von daher gibt es die Idee, dass es eine Fahrkarte gibt für den gesamten öffentlichen Verkehr. Die Verkehrsverbünde müssen zusammenarbeiten.
Spors:
Heißt dann einfacher auch teurer?
Müller-Gemmeke:
Nicht unbedingt, weil wir davon ausgehen, dass dann auch mehr Leute fahren. Natürlich müssen wir für Schüler, Senioren etc. günstigere Preise anbieten. Wir Grünen haben ökologische und soziale Themen auf dem Plan.
Spors:
Was ist denn ökologisch und sozial – haben Sie Beispiele?
Müller-Gemmeke:
Zum Beispiel ist beim ÖPNV-Ausbau ökologisch und sozial, dass es vergünstigte Preise für bestimmte Gruppen gibt.
Sandra Brock:
Sie sprechen Schüler und Senioren an. Alle anderen zahlen jetzt von Murr nach Stuttgart 6,40 Euro. Ist das nicht zu teuer?
Müller-Gemmeke:
In dem Moment, wenn der ÖPNV vernünftig ausgebaut und auch an den Fernverkehr gut angeschlossen ist, steigt die Attraktivität, dann fahren auch mehr Menschen und dann können auch günstigere Preise angeboten werden. Die Schweiz macht uns das vor. Oder beispielsweise im Bereich Klimaschutz. Wir müssen bei der energetischen Gebäudesanierung mehr machen. Sozial ist dann, dass wir ein Klima-Wohngeld einführen wollen.
Spors:
Was heißt Klima-Wohngeld?
Müller-Gemmeke:
Wenn Wohnungen durch energetische Maßnahmen teurer werden, sollen die Leute Unterstützung bekommen. Es darf nicht sein, dass klimafreundliches Wohnen sich nur diejenigen mit großem Geldbeutel leisten können.
Spors:
Aber das gilt ja heutzutage nicht nur für klimafreundliches Wohnen, sondern generell fürs Wohnen . . . Wie sehen Sie die aktuelle Situation auf dem Wohnungsmarkt?
Müller-Gemmeke:
Eine Katastrophe.
Kern:
Absolut.
Von Schaewen:
Muss da der Staat mehr tun? Soziale Wohnungsbauprojekte starten?
Kern:
Sozialer Wohnungsbau ist notwendig, weil er seit Jahren total vernachlässigt wurde. Da muss man wirklich massiv wieder reingehen. Man muss auch überlegen: Auf der einen Seite spricht man von Mietbremse, auf der anderen Seite aber nicht von höheren Löhnen und Gehältern. Das finde ich total irre. Wir waren ja eben gemeinsam zum Gespräch beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Heilbronn. Da wird auch vonseiten der Gewerkschaften nicht groß über Gehaltserhöhung gesprochen. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen die Hälfte ihres Gehaltes für Miete ausgeben müssen.
Spors:
Man muss also an beiden Stellschrauben drehen – Mieten und Löhnen?
Müller-Gemmeke:
Wenn man eine Mietpreisbremse macht, dann muss sie auch tatsächlich funktionieren. Das ist heute nicht der Fall. Zudem ist entscheidend, dass genügend Wohnungen überhaupt vorhanden sind. Und wir haben einfach zu wenige, gerade im Bereich bezahlbarer Wohnraum. Die öffentliche Hand kann jetzt nicht eine Million Wohnungen bauen, also wollen wir privates Kapital in den Wohnungsmarkt lenken, beispielsweise durch steuerliche Anreize. Aber verbunden mit einer neuen Wohngemeinnützigkeit, damit bezahlbarer Wohnraum entsteht.
Spors:
Dazu braucht es aber auch Flächen . . .
Müller-Gemmeke:
Ich kenne mich jetzt hier in der Gegend nicht so aus. Es muss geschaut werden, wo Brachen sind. Da gibt es meist einige. Es muss nicht immer neu gebaut, auch alter Bestand muss genutzt werden. Es gibt verschiedene Wege. Wichtig ist, dass die Investitionen nicht nur in hochpreisigen, nicht bezahlbaren Wohnraum reingehen. Zu den Löhnen möchte ich noch gerne sagen, dass ich es für ein Unding halte, dass rund 25 Prozent der Arbeitsverhältnisse prekär sind. Wir haben Minijobs, wir haben Leiharbeit, Arbeit auf Abruf, Befristungen . . . und das in einem so reichen, erfolgreichen Land wie Deutschland. Von daher: Wenn wir auf der einen Seite Lösungen für den Wohnungsmarkt suchen, dürfen wir nicht einfach die Spaltung zwischen Arm und Reich vergessen. Wir müssen an die 25 Prozent der Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen denken. Und hier gibt es noch viel zu tun.
Spors:
Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, für das manche Grünen sind?
Müller-Gemmeke:
Die Wirtschaft und der Öffentliche Dienst müssen weiterhin ihre Verantwortung übernehmen. Ich bin für faire Löhne und ich bin auch für Tariflöhne. Es ist nicht akzeptabel, dass bei uns die Tarifbindung immer weiter nach unten geht. Wir brauchen in einem reichen, erfolgreichen Deutschland vielmehr Löhne, von denen die Menschen auch leben können. Gleichzeitig muss ein Sozialstaat alle Menschen absichern. Das ist bei Arbeitslosigkeit der Fall oder wenn es um Kindererziehung oder Pflege geht, oder wenn sich die Menschen weiterbilden möchten. Es gibt unterschiedliche Lebenslagen und wir dürfen niemanden alleine lassen, wir müssen alle absichern. Und da stellt sich die Frage, ob soziale Absicherung so bürokratisch und unwürdig sein muss, wie heute? Ich bin der Meinung, es geht menschenwürdig und auf Augenhöhe. Mit einem Grundeinkommen würden die Menschen mehr Freiheit bekommen und sie wären auch besser abgesichert. Ich glaube, das würde auch den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken. Und bei einem Grundeinkommen geht es nicht um 2000 Euro, sondern um das sozio-kulturelle Existenzminimum.
Spors:
Aber gibt es nicht auch Leute, die einfach faul sind und dieses System ausnutzen würden?
Müller-Gemmeke:
Ich komme beruflich aus dem Bereich Langzeitarbeitslosigkeit. Maximal drei Prozent der Langzeitarbeitslosen wollen nicht mehr, sie sind ausgestiegen. Ich orientiere mich aber an den 97 Prozent, die arbeiten wollen. Diese drei Prozent haben wir übrigens heute auch – trotz der Hartz-Gesetze, trotz der Sanktionen. Wenn diese Frage beim Grundeinkommen kommt, frage ich immer: „Würden Sie dann nicht mehr arbeiten?“ Und dann kommt immer die Antwort: „Doch.“ Denn natürlich wollen die Menschen etwas tun.
Kern:
Also ich kenne viele Rentner, und sie haben nie Zeit.
Müller-Gemmeke:
Ein weiterer Aspekt des bedingungslosen Grundeinkommens wäre, dass die Leute nicht mehr so erpressbar wären. Sie müssen nicht mehr jede Arbeit zu jedem Lohn oder unter schlechten Arbeitsbedingungen annehmen. Die Arbeitswelt würde auch fairer werden.
Von Schaewen:
Stichwort Arm und Reich. Sind Sie auch für die Besteuerung der Millionäre? Wie viele Milliarden ergäbe das und wo könnte man die einsetzen?
Müller-Gemmeke:
Wir wollen eine Vermögenssteuer für Superreiche. Gemeint sind damit das eine Prozent der Reichsten. Ich würde das Geld vor allem in Kinder investieren, um Kinderarmut zu verhindern. Wir haben 2,5 Millionen arme Kinder in Deutschland. Das ist beschämend.
Spors:
Kommen wir zum Thema Flüchtlinge und Asyl. Wie stehen Sie dazu: Obergrenze ja oder nein?
Müller-Gemmeke:
Nein. Mit uns wird es keine Obergrenze geben. Wir können unsere Außengrenzen auch gar nicht dicht machen. Wir haben kilometerweite grüne Grenzen. Und abgesehen davon: Wer unsere Grenze übertritt und Asyl beantragt, ist nicht illegal im Land. Der Asylantrag wird dann rechtsstaatlich geprüft. Nach einer Anerkennung geht es dann um Integration. Aber auch diejenigen, die noch auf die Anerkennung warten, müssen Deutsch- und Integrationskurse besuchen. Das ist sonst verlorene Zeit. Und Sprache und Bildung sind immer wichtig. Und das ist auch ein Gebot der Menschlichkeit. Entscheidend ist vor allem, dass endlich die Fluchtursachen bekämpft werden. Beispielsweise müssen Waffenlieferungen gestoppt werden. Die Länder brauchen alles Mögliche, aber keine Waffen. Und wir haben vorher vom Klimawandel gesprochen. Wenn wir das weiterdenken: Wenn der Meeresspiegel weiter steigt und Inseln überflutet werden, wenn Bangladesch im Wasser untergeht, dann werden die Menschen flüchten und dann können wir sie auch nicht zurückschicken.
Spors:
Sie sprechen die Menschlichkeit an und sagen: Man muss die Leute aufnehmen. Das hat auch Angela Merkel gesagt. Heißt das, Sie würden mit ihr eine Koalition eingehen?
Müller-Gemmeke:
Wir können ja nicht mit Frau Merkel alleine eine Koalition machen, da bekommen wir auch noch ein paar andere (lacht). Es können sechs Parteien in den Bundestag einziehen. Bis auf eine Partei schließen wir keine Koalition aus. Wenn die Ergebnisse da sind, sehen wir weiter. Entscheidend sind schlussendlich die Inhalte bei Koalitionsverhandlungen – und die müssen maximal grün sein.