Foto: Sabine Rochlitz

An der Tobias-Mayer-Gemeinschaftsschule in Marbach ist die Leiterin Silke Benner mehr als zufrieden mit der neuen Schulform. „Hier weht ein neuer Geist“, sagt sie.

Marbach - Morgens, halb neun, in Marbach: Wer den separaten Flur betritt, in dem in der Tobias-Mayer-Gemeinschaftsschule die Fünftklässler untergebracht sind, könnte sich wundern. Nahezu alle Türen sind geöffnet, dennoch ist es erstaunlich ruhig. Für Schulleiterin Silke Benner ist das normal. Wobei es natürlich auch nicht immer so sei, sagt sie schmunzelnd. Die Umsetzung der neuen Schulart, die hier in diesem Schuljahr eingerichtet wurde, „läuft gut“, zieht Benner ein positives Zwischenfazit. „Wir haben schon Respekt gehabt“, räumt sie ein. Man sei zwar gut vorbereitet gewesen und habe Strukturen geschaffen – „dennoch kamen viele Dinge, die wir uns vorher nicht ausmalen konnten“. Gerade in den ersten vier Wochen habe man sich sehr viel Zeit genommen, damit die Kinder „die neue Form des Lernens lernen. Wir merken jetzt schon, dass es gut investierte Zeit war.“

Dass die neue Gemeinschaftsschule gleich einen solch hohen Zuspruch erfahrne würde, damit habe sie aber nicht gerechnet, gibt Benner zu. „In meinen kühnsten Träumen hatte ich gehofft, dass wir dreizügig werden.“ Nun sind es sogar vier fünfte Klassen mit zusammen 91 Schülern, mit denen die Marbacher Schule an den Start gehen konnte. Benner freut sich auch an „total interessierten Eltern“, die offensichtlich eine sehr bewusste Entscheidung getroffen hätten. Und zwar für eine ganz andere Form des Lernens, mit größerer Selbstständigkeit und dem Versuch, den Kindern Hilfen an die Hand zu geben, mit denen sie eigenständig arbeiten können. „Wir richten den Schülern ein schönes Buffet, legen ihnen Teller, Messer und Gabel bereit. Essen und verdauen müssen sie aber schon selbst“, veranschaulicht Benner das Konzept. Eins, mit dem auch das Kollegium glücklich sei. „Wir waren selten so überzeugt wie jetzt von einer Sache“, betont die Schulleiterin. „Das ist ein ganz neuer Geist, der hier weht.“

Das Lernen auf unterschiedlichen Niveaus nennt sie als Novum. Es gebe den Mindest-, Regel- und Expertenstandard. In Gelingensnachweisen könnten die Kinder ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen – ohne Noten. Stattdessen würden die Prozentsätze richtiger Antworten ermittelt – bei mindestens 80 Prozent gebe es ein Grün, ab 40 ein Gelb, darunter ein Rot. In letzterem Fall wiederhole man die Übung. Bei Gelb könne man noch einmal antreten. Der Lehrer, auch Coach genannt, könne aber auch entscheiden, dass nur ein bestimmter Teilbereich wiederholt werden muss – zum Beispiel, wenn beim Rechnen die Addition top ist, das Subtrahieren aber noch nicht funktioniere, erklärt Benner das Prinzip. Mit Grün wechsele man zum nächsten Standard. Die Ampel sei einfach und geläufig – für Kinder und Eltern.

Auch Lehrerin Evelyn Dierolf gefällt der Ansatz. „Früher hatte man bei einem Test eine Fünf und die stand dann so.“ Das neue System findet die erfahrene Pädagogin gut. Es mache zwar etwas mehr Arbeit, dafür werde man den Kindern gerechter. Es sei viel Zuwendung und Unterstützung möglich. Und: Jeder könne in seinem Tempo arbeiten. Das führe auch dazu, dass die Kinder lieber zur Schule gehen, mit mehr Spaß bei der Sache sind und sich dadurch auch stärker öffnen, hat sie festgestellt. Ihre Kollegin Cornelia Richter pflichtet ihr bei. „Wir mussten unsere Haltung und Sichtweise komplett ändern, gewillt sein, auch unsere Rolle neu zu definieren“, sagt sie. Mittlerweile klappe das sehr gut. „Und es ist ein superschönes Arbeiten, wie wir es uns vorher gar nicht vorstellen konnten.“

Manche Einheiten sind doppelt besetzt: mit pädagogischen Assistenten oder abgeordneten Kollegen von Förder- und Realschule sowie Gymnasium. Auch dies gehört zur neuen Schulart, von der es laut Kultusministerium mittlerweile 209 öffentliche und neun private im Land gibt. Zum kommenden Schuljahr kommen 62 neue öffentliche Gemeinschaftsschulen dazu. Damit nicht jede das Rad neu erfinden muss, schließt man sich in Netzwerken zusammen. Marbach habe sich für „Diler“ entschieden, berichtet Benner. 25 Schulen tragen zu der digitalen Lernplattform bei. Jede müsse Material für Mathematik und Deutsch erstellen, weitere Fächer seien freiwillig. Nutzen könnten die Unterlagen dann wiederum alle. Die Blätter werden bei Bedarf ausgedruckt und aufbereitet.

In verschiedenfarbigen Ordnern steht das Material im Lernatelier zur Verfügung: Rot ist Deutsch, Blau Mathe, Gelb Englisch, Grün NWA (naturwissenschaftliches Arbeiten) und EWG (Erd-, Wirtschafts-, Gemeinschaftskunde). In dem fünften Zimmer, das allen Schülern offen steht, herrscht als oberstes Prinzip der Flüsterton. Während die einen Material aus den Regalen holen, üben andere an der PC-Theke mittels Apps. Übrigens ganz bewusst im Stehen, so Benner.

Die Klassenverbände würden gewollt aufgelöst zum kooperativen Lernen. „Wir wollen ja nicht nur Individualisten.“ Immer wieder, „wenn sie’s brauchen“, gebe es Input – Wissen, das der Lehrer vermittelt. Etwas, das am Ehesten dem früheren Unterrichten entspricht. Auch in Englisch werde eine „festere Schiene“ gefahren. Das hänge damit zusammen, dass bei einer Fremdsprache das Sprechen selbst nicht zu kurz kommen dürfe, erklärt Benner.

Nicht nur die Methoden haben sich gewandelt – auch die Klassenräume haben ihr Gesicht verändert. An den Wänden stehen von den Techniklehrern mit der Firma Neuform entwickelte Möbel. Für jedes Kind ein Regal mit integriertem Tisch – der sich leicht herausziehen und im Raum aufstellen lässt. Einzeln oder mit anderen gemeinsam, wie es das momentane Tun erfordert. Auch der Flur sei als Lernort sehr beliebt, sagt Benner schmunzelnd. Jedes Kind habe einen kleinen Holzklotz, auf der einen Seite grün, auf der anderen rot. Das zeige, ob man gerade ansprechbar sei. Manche haben einen Briefkasten an ihrem Regal – für Nachrichten anderer. Die Tafeln habe man bewusst rausgerissen, sagt Benner. „Damit wir gar nicht erst in alte Muster verfallen.“ Eine Dokumentenkamera an der Wand erlaube das Projizieren an die Wand, Theken, Stellwände, Stehpulte gliedern den Raum. In jedem sieht es etwas anders aus – „das haben die Kollegen nach ihrem Gusto entschieden“, sagt Benner.

Die Kinder fühlen sich wohl. „Ich finde es gut, dass wir mehr mitentscheiden könne, meint Fabian. Auch der Chillraum mit Material zum Basteln komme gut an, ergänzt Ronja. Nikolai gefällt besonders die Lernatelierzeit.

Bei aller Offenheit des Unterrichts. Ganz wichtig, ja ein zentraler Punkt des Konzepts, seien die Coaching-Gespräche. sagt Benner. Wöchentlich werde mit jedem Schüler zehn bis 15 Minuten besprochen, was funktioniert hat und wo es noch Unterstützung braucht. Manchmal gehe es aber auch einfach um persönliche Sorgen.