Ekkehard Graf Foto: Oliver von Schaewen

Ekkehard Graf ist vor wenigen Tagen zum Dekan des Evangelischen Kirchenbezirks Marbach gewählt worden. Im Interview lädt er dazu ein, neue Wege zu gehen.

Marbach/Bottwartal - Ekkehard Graf tritt erst im September seine neue Wirkungsstätte als Dekan des Evangelischen Kirchenbezirks Marbach an. Noch ist Graf Pfarrer in Owen, doch kurz nach der Wahl besuchte er Marbach und unsere Redaktion. Wir unterhielten uns mit ihm auch darüber, wie er mit heißen Eisen umgeht, etwa mit der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, dem Islam oder dem Pfarrplan 2024.

Wie wirkt Marbach auf Sie?
Ich nehme zunächst diese tolle Altstadt wahr. Das Kleinod der Alexanderkirche. Ich bin derzeit auch in einer Gemeinde mit einer großen gotischen Kirche. Die Freude an Baugeschichte habe ich auf jeden Fall. Ich möchte mich hier weiter kundig machen und bald schon, wenn wir hier wohnen, an einer historischen Führung teilnehmen.
Wie sehen Sie selbst Ihre Ernennung zum Dekan: als Karrieresprung?
(schmunzelt) Vor vielen Jahren sagte mal ein Dekan zu mir: Richtig Karriere machen kann man in der Kirche nicht, man bekommt allenfalls eine Schmutzzulage. Tatsächlich gibt es in unserer Kirche mit ihren schlanken Hierarchien nur wenige Karrieremöglichkeiten. Was mich freut, ist, dass ich auf jeden Fall weiterhin Pfarrer sein darf. Ich werde zu etwa 25 Prozent noch Gemeindepfarrer in Marbach sein. Ich sehe es als Neuland an, mit drei Kollegen im Team zu arbeiten, weil ich 19 Jahre lang auf einer Stelle mit nur einem Pfarrer und einem Jugendreferenten tätig war.
Ein Kirchenbezirk ist größer als eine Kirchengemeinde. Wie sehen Sie das?
Es bedeutet, über ein größeres Gebiet den Überblick zu behalten. Das reizt mich, weil ich in den vielen Jahren als Pfarrer auch auf Bezirksebene gelernt habe: entweder in der Art, „so könnte ich es auch machen“, oder, „so will ich es später nicht machen“. Bevor ich in Owen war, habe ich drei Jahre als Pfarrer zur Anstellung bei einem Dekan gearbeitet. Da habe ich gesehen, dass man als Dekan viele Möglichkeiten hat, etwas mitzugestalten und zu verändern.
Haben Sie nicht auch Angst, als Dekan die Nähe zu den Menschen zu verlieren, weil sie viel in der Verwaltung tätig sind?
Die reine Verwaltungstätigkeit wird zunehmen, aber sie schreckt mich nicht. Dort, wo reine Papiertiger erzeugt werden, werde ich versuchen, das abzustellen. Ich möchte in leitender Position denken und mitdenken und damit Entwicklungen zulassen, die kirchenrechtlich vielleicht noch nicht im Blick sind.
Woran denken Sie da?
Ich denke an die Gemeinden. Wir werden weniger Pfarrerinnen und Pfarrer haben. Wie können wir Gemeindeleben so gestalten, dass Pfarrer nicht immer präsent sein müssen? Wie können wir die Gemeinden so stärken, dass es auch ohne die Pfarrer geht? Wie können Christen zum Beispiel neben den ehrenamtlichen Prädikanten ermutigt und befähigt werden, Gottesdienste selbst zu verantworten und zu gestalten. Mich bewegt aber auch die Frage, ob wir unbedingt in jeder Kirche an jedem Sonntag Gottesdienst feiern wollen. Es gibt ja auch Modelle, nach denen unterschiedliche Gottesdienste, nach Schwerpunkten gestaltet, gefeiert werden können. Gemeinden könnten sich spezialisieren – ich möchte da Räume eröffnen.
Wie sehen Sie sich persönlich in diesem Miteinander?
Mein Bild von Dekan ist: eine Person mit einer breiten Schulter, die zu Kirchengemeinderäten und Pfarrern sagen kann: „Mach’ mal! Ich stehe dahinter. Wenn es schiefgeht, hole ich dich wieder aus dem Schlamassel heraus. Und wenn es gutgeht, werden wir das weiter publizieren, damit andere an den Erfahrungen teilhaben können.“ Es ist dieses Probiert-mal-aus, und wenn ich informiert bin, stehe ich auch dahinter. Ich möchte nicht nur der Erfüllungsgehilfe irgendwelcher kirchenrechtlicher Bestimmungen sein. Das habe ich übrigens bei meinem Vorstellungsgespräch beim Oberkirchenrat ganz offen so benannt. Das hat nicht allen gleich geschmeckt, sie haben aber trotzdem meine Bewerbung zugelassen.
Mit welchen Mitteln möchten Sie Ihr Amt menschenfreundlich ausfüllen?
Die Essenz des Pfarrberufes ist für mich tatsächlich, mit Menschen zusammen unterwegs zu sein. Nicht als einer, der schon alles weiß, der aber mit auf dem Weg ist, begleitet, Impulse gibt. Und das Größte für mich ist, zu erleben, dass ein Mensch zu einem persönlichen Glauben an den dreieinigen Gott kommt. Dass er neue Lebenskraft dadurch gewinnt, dass er in einer persönlichen Beziehung zu Gott steht. Für solche Entdeckungen habe ich Theologie studiert, die Bibel hat viele Erfahrungen festgehalten. Das möchte ich mit Menschen teilen.
Zu teilen fällt hierzulande vielen nicht leicht . . .
Ich habe einen weiten Horizont, gehe bewusst auch in die Internationalität. Christliche Hilfsprojekte helfen uns, unsere gesellschaftliche Wirklichkeit besser zu verstehen. Ich selbst habe den Vorsitz eines Missionsvereins, der in Indien Kinderheime unterstützt. Das ist ein Förderverein für eine indische Kirche, die dort großartige Sozialarbeit leistet, auch Schulen und Gemeindegründungen begleitet – in einem Umfeld mit 80 Prozent Hindus.
Inwiefern lernen Sie dort für Ihre Arbeit hier?
Ich fahre einmal im Jahr dorthin und nehme da wichtige Eindrücke mit, wie Christentum in einer Minderheitensituation gelebt wird. Wie selbstbewusst und fröhlich sie sind, davon können wir enorm viel lernen. Auch wir werden eine Minderheit in unserer Gesellschaft werden. Das ist für mich in Ordnung. Ich jammere nicht mit, ich sehe auch die Potenziale.
Wie wichtig ist es Ihnen, sich mit denen zu vernetzen, die in Asylarbeitskreisen Flüchtlinge betreuen?
In meiner bisherigen Kirchengemeinde ist es faktisch so, dass wir denjenigen, die sich engagieren, Rückhalt geben. Da wirke ich auch mit im Arbeitskreis Asyl, und da gibt es einige aus der Kirchengemeinde, die engagiert sind. Ich ermutige sie sehr darin, das auch wirklich wahrzunehmen, weil es ein Zeichen dafür ist, dass wir Christen etwas von der Freundlichkeit Gottes weitergeben dürfen. Das finde ich klasse. Ich war Gründungsmitglied, habe mich dann zurückgezogen, weil die Kommune jemanden eingestellt hat, der sich um die Ehrenamtlichen und die Asylbewerber kümmert. Ich hatte einen sehr guten Draht zu unserer Bürgermeisterin und hoffe, dass ich auch zu ihrem Marbacher Kollegen eine sehr gute Beziehung aufbauen kann. Wenn Kirche und Kommune sich eins sind, kann man etwas Gutes auf den Weg bringen.
Wie erleben Sie den Streit um Horst Seehofers Meinung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland?
Ich finde es bedauerlich, dass der neue Innenminister den Satz noch einmal aufgegriffen hat. Schon vor acht Jahren hat der damalige Bundespräsident Christian Wulff klar betont, dass der Islam zu Deutschland gehört; das gilt seither. Zugleich hat Wulff aber auch bei einer Rede vor dem türkischen Parlament in Ankara gesagt, dass das Christentum auch zur Türkei gehört. Ich stehe voll dahinter: Natürlich gehört der Islam auch zu Deutschland. Ich bin sehr für Religionsfreiheit, und es ist mir total wichtig, dass wir da nicht mehr zurückgehen hinter das, was wir in unserer Demokratie bereits erreicht haben.
Sollten Moscheen gebaut werden dürfen?
Das befürworte ich stark. Das einzige, worauf man achten sollte, wäre, ob der Muezzin rufen darf. Das muss nicht in einer Gegend erschallen, in der prozentual sehr wenige Muslime leben. Ansonsten bin ich ein großer Fan der Religionsfreiheit und freue mich, dass Menschen hier ihren Glauben ungehindert leben können, ohne gleich eine Retourkutsche folgen zu lassen, dass es in islamischen Ländern auch so sein muss. Politiker können es benennen, aber es wird für mich nie die Motivation sein, nach dem Motto „erst wenn ihr es macht, machen wir es auch“. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist die Basis, deshalb: Der Islam gehört zu Deutschland.
Sollte islamischer Unterricht an den Schulen verankert werden?
Ja, ich bedauere nur, dass wir da noch keinen Ansprechpartner haben. Es tut den Kindern sicherlich gut, ohne ideologisiert aufgeladen zu sein, an ihren eigenen Glauben herangeführt zu werden. Deshalb bin ich auch ein Fan von evangelischem und katholischem Religionsunterricht und würde es begrüßen, wenn wir da viel schneller einen islamischen Religionsunterricht anbieten könnten.
Die türkische Religionsbehörde Ditib wurde als Garant für eine staatlich kontrollierte Theologie jahrelang als Hilfe angesehen. Wie denken Sie in Zeiten Erdogans darüber?
Wir haben auch viele muslimische Familien, die keine Türken sind. Wir haben Aleviten, Schiiten – die werden von der Ditib in keinster Weise repräsentiert. Deshalb halte ich sie nicht für den richtigen Ansprechpartner. Wenn wir von einer staatlichen Kontrolle sprechen, dann doch bitte nicht von einem anderen Land her. Ich möchte auch nicht, dass Deutschland kontrolliert. Neulich kam ein Vorschlag von einem Politiker, die Predigten in den Moscheen müssten überprüft werden. Dann wäre der nächste Schritt: Künftig sitzt bei mir ein staatlicher Vertreter und hört, was ich predige, und ob das staatlich opportun ist und dem Mainstream entspricht. Wehret den Anfängen: Wir wollen keine Stasi oder Gestapo im religiösen Bereich schaffen!
Wie würden Sie den Islam in positive Bahnen lenken?
Wir sollten die Ausbildung von islamischen Religionslehrern an unseren Universitäten ermöglichen. Nur diese Freiheit, die der Staat in den Unterrichtsinhalten gewährt, ist möglich, weil die katholische und die evangelische Kirche Ansprechpartner sind, die offen agieren und die ihre Lehrpläne gemeinsam entwickeln mit dem Staat und sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen in den staatlichen Ausbildungsstätten an Universitäten und Lehrerseminaren. Das haben wir beim Islam noch nicht, aber es kann sich entwickeln. Ich gehöre nicht zu den Angstmachern, die sagen: Irgendwann überrollt uns der Islam.
Sie nehmen politisch kein Blatt vor den Mund. Vermissen Sie das bei den Pfarrern?
Ich bin sehr interessiert und lese den Politikteil der Zeitung immer sehr genau. Bei den Themen, bei denen Kirche mitreden darf, rede ich gerne mit. Ich würde zum Beispiel nicht gerne mitreden bei Themen wie Stuttgart 21 oder Dieselskandal. Da habe ich eine persönliche Meinung, die ich aber nicht als Kirchenvertreter äußern würde. Das Thema Islam hingegen geht uns als Kirche genuin an.
Wo würden Sie sich selbst auf einer Skala, von 1 für den Pietismus und 10 für die gegenläufige protestantische Strömung des Liberalismus, einordnen?
Mir ist die persönliche Gottesbeziehung ein sehr wichtiges Anliegen. Man sollte aber nicht nur über seine persönlichen Überzeugungen reden, es sollte auch zur Tat werden. Das hat Jesus Christus vorgelebt. Die Skala, die Sie nennen, kenne ich so noch nicht. Ich möchte auch nicht, dass Sie mich in eine Schublade stecken, aber wenn Sie diese Skala unbedingt wollen: Da liege ich bei 1,5.
Warum nicht 1?
Es gibt ein paar sehr stramme Begleiterscheinungen in der Außenwirkung von Pietisten, in denen ich mich nicht wiederfinde. Da fehlt manchmal die Liebe, die Menschenzugewandtheit . . .
Wird der Pietismus zu wenig geschätzt in unserer Gesellschaft?
Er hat ein Geschmäckle. Ich würde ihn auch eher durch evangelikal ersetzen, weil sich dort auch geistliche Strömungen wiederfinden, die keine Pietisten sind, die aber ähnliche Grundsätze haben: etwa die Pfingstkirchen oder die charismatische Bewegung, die für einen gelebten und empfundenen Glauben stehen, wo er also nicht nur Kopfsache ist.
Wie positionieren Sie sich bei der „Ehe für alle“, die Homosexuellen den Bund fürs Leben ermöglicht?
Dass der Bundestag diese Entscheidung getroffen hat, respektiere ich uneingeschränkt. Kirchlich gesehen ist es für mich ein Randthema, da es um eine kleine Randgruppe von Menschen geht. Es sind so wenige, die Homosexualität leben und sich trauen lassen, dazu noch eine kirchliche Segnung möchten. Ich bin traurig, dass das Thema so hochstilisiert wird, von beiden Seiten. Als ob dies das Signum der Kirche wäre. Und als ob man dadurch bibeltreu oder menschenzugewandt wäre . . .
Würden Sie den homosexuellen Paaren die Segnung verweigern?
Da ich ab September Dekan bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu verweigern. Der Bischof hat in seinem letzten Bericht vor der Synode darum gebeten, dass man den Beschluss der Synode respektiert. Ich persönlich würde mir die Gewissensfreiheit gönnen, Nein zu sagen. Aber wenn der Nachbarpfarrer, falls die gesetzliche Lage sich ändert, das gerne macht, dann freue ich mich, wenn er es gerne macht. Aber ich gehöre zu den 350 Pfarrerinnen und Pfarrern unserer Landeskirche, die bei einer Unterschriftenaktion im Vorfeld des Beschlusses signalisiert hat, dass es wichtig ist, die Gewissensfreiheit zu berücksichtigen, sodass es Pfarrer gibt, die dafür nicht zur Verfügung stehen.
Haben die Kirchengemeinden generell Berührungsängste mit Homosexuellen?
Ich habe keinerlei Berührungsängste. Wir haben in unserer Kirchengemeinde eine lesbische verheiratete Frau, die bei uns im Kinderkirchenteam mitarbeitet. Das ist für mich gar kein Problem. Die Menschen an sich sind willkommen in der Kirche, aber nach meinem biblisch-theologischen Verständnis ist es keine Form, die vom Wort Gottes her für eine Segnung empfohlen wird. Und noch einmal: Es sollte nicht hochstilisiert werden. Wir sollten auch nicht Leute segnen, die ständig neidisch oder egoistisch sind, die anderen Böses antun. Die sollten wir in ihrem Verhalten auch nicht segnen, aber wir werden jeden aufnehmen, weil Kirche nur ein Haufen begnadigter Sünder sein kann. Wenn wir einmal anfangen, irgendjemanden wegen sündigen Verhaltens auszuschließen, wäre ich der erste, der rauszuschmeißen wäre. In der Bibel ist aber nicht von Segnung an der Stelle die Rede, wo Menschen sich versündigen.
Ein ungeliebtes Kind ist der Pfarrplan 2024 mit Stellenabbau in den Kirchengemeinden. Wie gehen Sie damit um?
Ich werde es nie schönreden und versuchen, es den Gemeinden zu verkaufen, als sei es etwas Positives. Es ist zuerst einmal eine Verlusterfahrung. Und es ist eine politische Entscheidung, die unsere Landessynode schon vor vielen Jahren getroffen hat. Ziel war, bei weniger Gemeindegliedern die Pastorationsdichte zu erhalten und synchron dazu Pfarrstellen abzubauen. Dass der theologische Nachwuchs geringer wird, spielt diesem Vorgehen natürlich in die Karten. Damals stand im Raum, dass die Finanzen weniger werden. Das hat sich bis dato aber nicht erfüllt.
Was folgern Sie daraus?
Jetzt, wo es etwas besser aussieht, wünsche ich mir, dass unsere Kirche etwas mutiger wird. Wir müssten schauen, wie wir Menschen für den Pfarrdienst gewinnen können, ohne ein sechsjähriges Hochschulstudium vorauszusetzen. Es gibt da durchaus Modelle, aber es fehlt der Mut, weil noch Versorgungsleistungen zu stemmen sind. Ich bin nicht glücklich damit, dass hier nicht weiter vorausgeschaut wird. Es ist die vierte Runde im Pfarrplan, und mein Eindruck ist: Es tut jetzt zum ersten Mal richtig weh. Ich hätte diesen Schritt nicht in dieser Härte getan.
Wie kann man die Lücken hier im Kirchenbezirk schließen?
Es gibt auch Chancen. Hier könnten wir die Jugendreferenten mit einbeziehen in die Gestaltung der Gemeindearbeit. Die Bezirkssynode hat es mit dem Fonds „FORJU“ geschafft, unbefristete Stellen zu schaffen. Dadurch können Pfarrer auch entlastet werden, indem sie gar nicht mehr den Bereich Jugendarbeit und Konfirmation abdecken. Die Pfarrer könnten kreativ neue Möglichkeiten entdecken, um Menschen mit Glaube und Kirche ins Gespräch zu bringen.