Irmgard Wintterle (im linken Bild in der Mitte) im Kreis ihrer Kinder und Enkel. Die brasilianischen Indianer stehen für einen wichtigen Lebensabschnitt der Seniorin – ihre Auslandsjahre. Foto: Rüdiger Schestag

Das Fotoprojekt „Blickwechsel“ würdigt Menschen, die sich um ihre dementen Verwandten kümmern - wie die Familie Streiff-Wintterle.

- Erdmannhausen - Den Moment, an dem ihm auffiel, dass mit seiner Oma etwas nicht stimmte, hat Philipp Streiff noch gut in Erinnerung. „Sie hat uns früher oft Pfannkuchen gebacken. Einmal hat sie zum Pfanne-Einstreichen plötzlich einen falschen Pinsel genommen. Danach war die Pfanne voller Haare“, erzählt der 14-Jährige. Es waren die ersten Merkmale der schleichenden Demenz.

Philipps Oma, Irmgard Wintterle, kann mittlerweile längst nicht mehr wie früher mit ihrem Volvo von Neckarweihingen nach Erdmannhausen gondeln, um ihren Enkeln, ihrer Tochter Karin Wintterle und ihrem Schwiegersohn Peter Streiff im Haushalt zur Hand zu gehen. Nach einem schweren Fahrradunfall, der die Amputation eines Beines zur Folge hatte und, so Karin Wintterle, „die geistige Verwirrung sehr beschleunigte“, lebt die alte Frau im Heim. Derzeit ist Irmgard Wintterle samt ihrer Familie jedoch ein öffentlicher Mensch: als eine von mehreren Protagonisten in der Fotoausstellung „Blickwechsel“ im Ludwigsburger Klinikum. Die Schau will den Angehörigen von Demenzkranken ein Gesicht geben, die sich im Verborgenen oft enorm aufreiben, um ihren erkrankten Familienmitgliedern noch ein Optimum an Lebensqualität zu ermöglichen.

Initiiert hat das Projekt die Ludwigsburger Tanz- und Theaterwerkstatt zusammen mit dem Fotografen Rüdiger Schestag. Die Streiff-Wintterles folgten dem Aufruf, sich für ein Familienporträt zur Verfügung zu stellen. Das war kein Selbstläufer, erinnert sich Schestag, die Resonanz sei zunächst überschaubar gewesen. Es gebe wohl doch eine Scheu, sich mit dem Thema Demenz an die Öffentlichkeit zu wagen. Für die Streiff-Wintterles galt das nicht: „In unserem Umfeld wissen sowieso alle, in welchem Zustand meine Mutter ist“, sagt Karin Wintterle. „Ich fand die Idee richtig gut.“ Auch der Fotograf, der ansonsten vor allem Musiker oder Tänzer in Szene setzt, fand die Aufgabe spannend. „Ich hatte bisher mit dem Thema Demenz keine Berührungen. Allerdings auch keine Berührungsängste“, berichtet er. Ihm sei es bei den Aufnahmen darum gegangen, „das Natürliche, das Echte herauszukitzeln“.

Entstanden sind bei den Begegnungen zärtliche, anrührende Momentaufnahmen in unterschiedlichen Familienkonstellationen. Die Bilder zeigen Mutter und Tochter, Ehepaare oder Großfamilien. Jedes Porträt kombinierte Schestag mit einem Objekt, das stellvertretend für etwas steht, das dem Demenzkranken einmal besonders wichtig war: eine Angelrute etwa, eine Bibel, Spielfiguren – oder ein quirliger Hund.

Auf dem Porträt der Streiff-Wintterles gruppieren sich Sohn Jürgen und Tochter Karin und die Enkel Philipp und Marius um Irmgard Wintterle. Das Komplementärbild zeigt geschnitzte Figuren brasilianischer Indianer. „Meine Mutter wanderte mit gerade mal 21 Jahren mit meinem Vater nach Brasilien aus“, erzählt Karin Wintterle. Acht Jahre lebten die Eltern in Campinas bei São Paulo. „Meine Mutter hat lange von der Zeit in Brasilien gezehrt.“ Ein ausgestopftes Krokodil, das der Vater einst fing, lugt heute noch aus der efeuumrankten Pergola in Erdmannhausen.

Ob die Mutter die brasilianischen Figuren auch selbst als Symbol auserkoren hätte? Zu solchen Überlegungen kann die 80-Jährige sich nicht mehr äußern. Vieles aus dem Jetzt findet keinen Eingang mehr in ihre Lebenswirklichkeit – das amputierte Bein zum Beispiel. Unentwegt will sie aus dem Rollstuhl aufstehen. „G’schwind, hilf mir mal raus“, meint sie geschäftig, als ihre Tochter zu Besuch bei ihr vorbeischaut. „Ich hab’ jetzt Gymnastikstunde.“

Karin Wintterle fährt ihre Mutter also, wie so oft, mit freundlicher Geduld per Lift ins Obergeschoss des Heimes, um ihr zu zeigen, dass dort keine Gymnastikgruppe auf sie wartet und dass sie jetzt ruhig bei einer kleinen Spazierrunde die Sonnenstrahlen auskosten kann. Die Streiff-Wintterles binden die Seniorin, die in ihrer Krankheit meistens in heiterer Grundstimmung ist, weiterhin in ihren Familienalltag ein. Die Tochter nimmt die Mutter zu Besorgungen in den Ort mit, wochenends wird sie zum Kaffee und ausgedehnten Spaziergängen abgeholt.

Die Demenz ihrer Mutter brachte Karin Wintterle, die als Sozialarbeiterin im Winnender Krankenhaus tätig ist, auch neue Aufgaben ein: Sie leitet inzwischen zwei Alzheimer-Angehörigengruppen der Ludwigsburger Diakonie- und Sozialstation. „Dabei habe ich die meisten Sorgen, die pflegende Angehörige quälen, gar nicht mehr, seit meine Mutter im Erdmannhausener Kleeblatt gut versorgt ist“, sagt sie.

Aber die Geschichten und Probleme der anderen Angehörigen lassen sie nicht los. Berufstätige, die wochenends sogar in andere Bundesländer fahren, um ihren dementen Eltern beizustehen. Familien, die das schlechte Gewissen plagt und die sich den Kopf zermartern, ob es ein „Abschieben“ ist, wenn man die Mutter, die man eigentlich nicht mehr allein lassen kann, nun einem Heim anvertraut. Beziehungen in der Zerreißprobe, weil die permanente Hab-acht-Stellung für den hilfsbedürftigen Angehörigen Zermürbung zur Folge hat. „Es gibt enormen Beratungsbedarf“, sagt Karin Wintterle.

Sie fände es schön, wenn das Thema, das so viele Menschen ereilt und in Atem hält, „etwas mehr Normalität bekäme“. Wie eben durch Aktionen wie die „Blickwechsel“-Ausstellung. Auch Karin Wintterles heranwachsende Söhne finden es in Ordnung, dass jeder sie auf dem Bild mit ihrer dementen Oma sehen kann. „Damit kann ich gut leben“, sagt Philipp, der Jüngere. „Ich gehöre zur Familie. Für mich war es klar, dass ich mit zum Fototermin gehe.“