Karin Götz, Reinhard Rosner, Aleko Vangelis, Tanja Rieger, Barbara Geeck und Birgit Hannemann (von rechts im Uhrzeigersinn) haben ihre persönlichen Ansichten und Erfahrungen zum Thema „Familie“ im Gespräch miteinander ausgetauscht. Foto: Werner Kuhnle

Lokalpolitiker und Ehrenamtler sprechen darüber, wie Kommunen familienfreundlicher werden können.

Marbach/Bottwartal - Ein zentraler Anspruch, der oft an Kommunen erhoben wird, ist der der „Familienfreundlichkeit“. Viele Familien stehen im täglichen Leben immer wieder vor Herausforderungen – wie kann hier die Kommune helfen? Was leistet sie heute schon und wo gibt es noch deutlichen Nachbesserungsbedarf in der Zukunft?

Ich möchte zunächst gerne wissen, wie jeder Familie für sich ganz persönlich definiert. Rieger: Für mich sind es die Menschen, die unter einem Dach leben. Das sind die Familie und Verwandte, aber auch Menschen, die ins Haus kommen. Ich habe jahrelang Au-Pairs gehabt und sie gehören für mich dazu. Familie hat etwas mit Gefühl zu tun. Geeck: Für mich ist es erst mal die Familie im klassischen Sinne, also Eltern und ihre Kinder. Dazu zähle ich natürlich auch Patchwork-Familien und alle neueren Formen einer Eltern-Kind-Gemeinschaft. Hannemann: Ich fasse den Begriff da auch enger: Eltern, Kinder und Großeltern. Schon eher die Blutsverwandtschaft. Freunde sind für mich Freunde. Vangelis: Ich definiere es als Kernfamilie, wobei ich selbst ja aus der griechischen Kultur komme und da gehört oft noch der Cousin dritten Grades dazu. Wir leben auch seit zwölf  Jahren mit einer Familie zusammen – in einer Doppelhaushälfte mit Durchgang im Inneren. Die gehören auch dazu. Auch im Verein, in dem ich arbeite, sprechen wir von Familie. Das Füreinander da sein macht es aus. Rosner: Mein Ausgangspunkt ist ähnlich: Die Kernfamilie im rechtlichen Sinne. Aber es gibt ein Zusammengehörigkeitsgefühl – und da können auch Außenstehende einbezogen sein. Dieses Gefühl des Zusammehalts „in guten wie in schlechten Tagen“ zeichnet für mich eine Familie aus.

Der Familienbegriff und die Bedeutung der Familie wandeln sich mit den Jahren. Was hat sich für Sie da jüngst verändert? Geeck: Immer mehr Mütter sind berufstätig und damit entfallen sie als verlässliche, immer erreichbare Ansprechpartner für ihre Kinder. An ihre Stelle treten nun neue Vertrauenspersonen, wie Tagesmütter, Erzieherinnen oder andere Personen. Rosner: Ich glaube auch, dass die einzelnen Familienglieder selbstständiger und individueller geworden sind – vielleicht ist auch egozentrischer der richtige Begriff? Rieger: Ich glaube, heute sind wir enger auf die Familie fixiert, weil sie eben nicht mehr so verlässlich da ist. Wenn alle Mitglieder verstreut leben, greift man auf die Familie vor Ort stärker zurück. Auch die aktuelle Forschung besagt, dass die Jugend wieder mehr auf die Eltern hört. Ich wollte mit 18 nur weg. Mein Sohn hat schon gedroht, dass er erst auszieht, wenn er heiratet! Vangelis: Früher gab es deutlich weniger Scheidungen. Die Großeltern sind oft auch nicht mehr vor Ort. Ich habe beobachtet, dass dadurch in meiner Generation – also so 40+ – eine Unsicherheit entstanden ist, weil man nicht weiß, an wen man sich jetzt wenden kann, wenn es Erziehungsfragen gibt. Das spüren auch die Kinder. Aber die Nähe ist ein Effekt im positiven Sinne. Es entsteht aber auch negative Abhängigkeit – Stichwort: Helikoptereltern. Geeck: Wir hatten als Kinder und Jugendliche einen großen Freiaum und konnten vieles ausprobieren, ohne ständig von den Eltern kontrolliert zu werden. Heute haben Eltern oft Angst, ihren Kindern drohe überall Gefahr und davor müssten sie sie schützen. Diese Angst wird durch die Medien verstärkt. Die Eltern sind verunsichert und halten ihre Kinder länger und stärker fest. Vielen Kindern fehlt dadurch die Selbsterfahrung.

Was sind die Herausforderungen, denen sich Familien heute stellen müssen? Rosner: Die Rollenbilder waren früher viel gefestigter. Da gab es keine Diskussionen. Es gab Grundüberzeugungen, die von allen mitgetragen wurden. Heute muss die Keimzelle Familie vieles erst für sich entwickeln, was zu Konflikten führen kann. Geeck: Dazu kommt noch der Einfluss der digitalien Medien. Der Umgang damit muss erlernt werden, gleichzeitig aber Grenzen zu ziehen, ist sehr schwierig. Ich möchte heute nicht mehr Mutter von kleinen Kindern sein. Hannemann: Die Grenzen, die man ziehen muss, sind einfach andere. Es ist ein Spagat dazwischen, dass ich mein Kind zu der Techniknutzung befähige. Aber ich muss auch sagen, ab wann es zu viel wird. Vangelis: Die Unsicherheit gibt es definitiv. Social Media ist eine Herausforderung, so wie es früher das Fernsehen war. Ich finde es aber spannend, zu erfragen, was ist gut und was schlecht. Ich glaube, viele Eltern haben eher Schwierigkeiten damit, dann ihre Regeln auch konsequent umzusetzen. Eine Unsicherheit ist zudem auch beim Thema Schule da. „Mein Kind muss auf das Gymi“, hört man oft. Da werde ich fuchsig. Das liegt auch an Vorurteilen gegenüber anderen Schulformen. Dabei wäre oftmals eine andere Form für die Entwicklung des Kindes und seinen Platz in der Gesellschaft wesentlich besser. Es ist wichtig, zu fragen: Was tut meinem Kind gut? Was braucht es? Hannemann: Die Erwartungshaltung, egal wem gegenüber, wird auch immer größer. Ich höre oft, dass Vereine keine Helfer mehr finden. Viele Mitglieder sagen: „Ich zahle doch Beiträge, wieso muss ich noch helfen?“ Das geht in Kindergarten und Schule weiter. Die Eltern geben Verantwortung ab, wollen das dann aber oft nicht wahrhaben. Eine Betreuung zuhause kann ich handhaben, wie es mir passt. Wenn ich das aus der Hand gebe, muss ich einfach auch Kompromisse eingehen. Rieger: Ich kann ihnen allen zustimmen. Es ist für mich eine gesellschaftliche Aufgabe, jetzt daran zu arbeiten, diese neue Vielfalt wertzuschätzen. Die Fähigkeit, das andere als etwas Positives wahrzunehmen, und den Austausch müssen wir fördern. Ob im Sportverein oder in den Schulen . . . Es braucht eine Vernetzung aller, die an der Erziehung beteiligt sind. Wenn ich da an Kindergärten denke, gibt es dazu wenige Möglichkeiten, außer vielleicht beim Abholen der Kinder.

Von wem sollte die Initiative zu Austausch und Vernetzung ausgehen? Rieger: Da gibt es keine Bringschuld. Aber ich denke, die Kommunen könnten da viel anregen. Etwa über eine Ideenwerkstatt. Die kommunale Ebene kann viel initiieren. Leben kann es aber nur die Gesellschaft. Geeck: Von einer familienfreundlichen Kommune erwarte ich Offenheit und Wertschätzung gegenüber Ideen aus der Bevölkerung. Die Umsetzung liegt eher bei engagierten Bürgern, wobei es oft der Unterstützung der Verwaltung bedarf, wie bei Raumfragen oder einer finanziellen Unterstützung. Die Einrichtung einer Ideenbörse wäre dabei sicher gut a là „Ich biete/Ich brauche Gegenstände/ Hilfe bei...“.

Ist das von der Verwaltung leistbar? Hannemann:
Rein finanziell gesehen ist manches leistbar und anderes eben nicht. Aber speziell für Kinder können tolle Dinge entstehen, wie beispielsweise der Freizeitpark am Jugendhaus Calypso in Erdmannhausen. Der wurde gemeinsam von der Gemeinde, dem Verein und Spenden finanziert. Das ist ein Beispiel, wie es funktionieren kann – Hand in Hand. Und es ist auch einfach extrem wichtig, dass wir als Kommune auch wertschätzen, was ehrenamtlich gemacht wird. Das ist oft noch mehr wert als Geld. Rieger:
Da sind wir wieder beim Thema Vernetzung. Es ist enorm wichtig, dass ich als Elternteil „mit dazugehöre“. Das gilt nicht nur für das Beispiel Kindergarten, sondern auch für die Kommunen an sich: Wenn Aktivitäten vernetzt stattfinden, dann trägt das zu einem Bewusstsein bei: „Ich bin ein Teil des Ortes.“ Wir haben das selbst im Elternforum erlebt. Viele Eltern wussten nicht, dass wir alles ehrenamtlich machen. Seit wir das nun kommunizieren, haben wir viel mehr Helfer. Rosner:
Auf eine Gemeinde kann das nicht gemünzt werden. Wäre das Forum durch die Gemeinde geleitet, würden wohl keine Identifikation und kein Engagement der Eltern, sondern eine Anspruchshaltung entstehen. Solche Initiativen können nicht kommunal organisiert werden. Die müssen aus sich heraus kommen, die Gemeinde kann dazu aber den Rahmen setzen. Rieger: Das ist klar. Die Gemeinde muss eine Stelle bieten, an die Bürger sich mit ihren Ideen wenden können. Denn sonst vergibt man sich Chancen.

Ein häufiges Schlagwort in Verbindung mit Kommunen ist „Familienfreundlichkeit“. Wie kann sich der Begriff mit Leben füllen? Vangelis: Wenn ich an Steinheim denke, ist für Kinder einiges da. Aber wenn sie älter werden, gibt es kaum noch etwas. Deshalb bin ich voll für eine Vernetzung, gerne auch interkommunal. Gemeinden können dort sehen, was ihnen fehlt und wie andere es vielleicht besser machen. Und dann gibt es ja Initiativen und Vereine, die vielleicht zu wenig Kraft und Ressourcen haben, um gute Ideen umzusetzen. Pläne scheitern an Kleinigkeiten und es herrscht Frust. Wenn die Vernetzung besser gelingt, dann wird das zu einem positiven Effekt führen! Hannemann: Es sind vielschichtige Dinge, die Familienfreundlichkeit ausmachen. Das führt bis zur Infrastruktur: Eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr oder Einkaufsmöglichkeiten vor Ort spielen für Mütter wie Ältere eine große Rolle. Wir haben in Erdmannhausen bewusst junge Familien ins Neubaugebiet geholt mit einer Kinderprämie. Das ist etwa auch eine Rahmenbedingung, die Gemeinden setzen können. Ein anderes Beispiel ist die Kletterbrezel, mit der ein zentraler Platz belebt worden ist. Da sind wir zurück beim Thema „Hand in Hand“. Privatleute, Gemeinde und Firmen haben dafür Geld zusammengelegt – das ging ratzfatz. Rieger: Es macht aber einen Unterschied, ob sie als Bürgermeisterin einladen oder ein Vereinsvorsitzender. Rosner: „Familienfreundlichkeit“ ist ein überaus differenzierter Begriff. Wenn ich mich frage, was der Part der Gemeinde ist, dann ist das für mich die Organisation der Infrastruktur. Das heißt die Frage: „Was gibt es vor Ort?“. Aus dem etwas zu machen, liegt bei den Menschen. Die Gemeinde kann den Spielplatz richten oder die Kabine sanieren – dass diese Möglichkeiten auch genutzt werden, liegt aber bei den Bürgern. Geeck: Erst durch Aktivitäten und Teilnahme identifiziert man sich als Bürger mit dem Wohnort. Als wir nach Birkhau zogen, gab es dort nichts für Mütter. Wir haben eine Müttergruppe gegründet und es waren die Aktivitäten in dieser Gruppe, die mich heimisch werden ließen.

Derzeit kommen viele Menschen „neu“ im Bottwartal an. Ist die Integration von Flüchtlingen auch ein Familienthema? Geeck: Für die Gesellschaft überhaupt ist das ein Thema. Vorrangig engagieren sich aber derzeit Einzelpersonen, die den geflüchteten Familien helfen, sich bei uns zurechtzufinden. Kontakte zu Familien entstehen langsam über die Schulen, wenn die eigenen Kinder die neuen Mitschüler kennenlernen. Vangelis: Integration ist ein Thema, das für die Zukunft so wichtig ist, dass es in der Gegenwart entschieden wird. Ich habe den Eindruck, dass gewisse Vorbehalte keine Ausnahmen mehr sind, sondern extrem weit verbreitet. Deswegen finde ich, dass wir hier „Orte der Begegnung“ schaffen müssen. Das Kennenlernen der Kulturen und Menschen ist wichtig. Rieger: Unsere Fantasie ist es, dass zugewanderte Familien unsere Angebote noch stärker nutzen. Ein Beispiel wäre es, dass Leihomas Kinder zum Sprachenlernen betreuen – dafür fehlen uns aber derzeit noch Omas und Opas. Hannemann: Das Thema Integration ist eine Wahnsinnsherausforderung. Auch was auf uns als Kommunen zukommt, wie im Betreuungs-Bereich. Da gibt es etwa auch Mütter, die kein Deutsch sprechen. Wie soll da eine Erzieherin ein Gespräch führen? An den sprachlichen Barrieren scheitert viel, auch das Zugehörigkeitsgefühl und der Zugang zu Angeboten im Ort.

Wie sieht nach der heutigen Runde denn ihr persönliches Fazit bezüglich Kommunen und Familien aus? Rosner: Ich würde hier die Verunsicherung der Eltern aufgreifen. Kommunen haben für mich die Aufgabe, dieser Verunsicherung Verlässlichkeiten in Form von Angeboten gegenüberzustellen. Vangelis: Ich habe vorab auf Social Media die Eltern gefragt, was Kommunen denn tun könnten. Viele Eltern wünschen sich eine finanzielle Entlastung. Aber es fehlen auch Kinderärzte im Kreis. Ich nehme wahr, dass sich in den Gemeinden schon etwas bewegt. Es wäre großartig, öfter zusammenkommen und zu überlegen, was fehlt in unserer Kommune, wo sind „Nöte“, um dann kreative Lösungen zu finden. Das wäre mein Wunsch. Rieger: Wenn es gelingt, eine Vernetzung von Unterstützungsangeboten von und für Familien zu erreichen – und zwar mit Hilfe der Kommune – ist die Gesellschaft für die Herausforderungen gewappnet. Hannemann: Ich glaube, die Kommunen leisten versteckt schon mehr, als man denkt. Angefangen vom Kinderhaus bis zum Jugendhaus. Da sind Leute vor Ort, die auch ein Auge auf die Kinder haben. Und das ist für das Personal absolut nicht immer vergnügungssteuerpflichtig, weil Eltern nicht verstehen, dass die Gemeinde sich in schwierige Situationen einmischt. Geeck: Ein wichtiges Thema für Familien ist es zunächst, überhaupt eine Wohnung zu finden. Das wird trotz leerstehender Häuser immer schwieriger. War ich erfolgreich, dann hoffe ich, dass ich ein Städtchen mit guter Infrastruktur und Möglichkeiten zur Teilhabe vorfinde. Das Gespräch führte Karin Götz.Das Protokoll führte Julia Amrhein.