Surge-Quarterback Jacob Wright (links) wird einen Tag nach dem Spiel gefeuert. Foto: Avanti

Im Gazi-Stadion fand erstmals ein Spiel der neugegründeten European League of Football statt. Stuttgart Surge traf auf Frankfurt Galaxy – mit dabei Tom Stickel aus Rielingshausen.

Stuttgart - Es sind nur einige Hundert Zuschauer und nicht Zehntausende, die am Sonntag ins Stadion auf der Stuttgarter Waldau strömen. Das ist auch Corona geschuldet, vor allem aber dem Umstand, dass American Football hier eben nicht denselben Stellenwert hat wie in seinem Ursprungsland.

Und doch weht beim ersten Heimspiel des neuen Teams Stuttgart Surge in der frisch gegründeten European League of Football (ELF) über allem ein Hauch von NFL. Die NFL – jene Profiliga, die im Football das Maß aller Dinge ist, die mit dem Super Bowl die größte Sportveranstaltung der Welt ausrichtet und von der jeder Footballspieler zumindest ein kleines bisschen träumt.

Größe und Gewicht sind entscheidend

Das gilt auch für Tom Stickel aus Rielingshausen, der es zumindest schon mal ins Stuttgarter Team geschafft hat, das an diesem Tag auf Frankfurt Galaxy trifft. Der 20-Jährige hat Football 2015 für sich entdeckt. „Eigentlich wollte ein Kumpel zum Probetraining in Ludwigsburg gehen. Aber er wollte nicht allein dorthin, also bin ich mitgegangen. Er hat bald wieder aufgehört, ich bin geblieben“, erinnert sich Stickel und gibt direkt zu: „Aber im ersten Jahr habe ich richtig auf die Fresse bekommen!“

Das sei als Anfänger normal. „Im Football kommt es nicht so sehr auf Talent an. Wichtig sind vor allem Disziplin und harte Arbeit.“ Das habe er kapiert und angefangen, hart zu trainieren, auch im Studio. Tom Stickel ist Linebacker. Auf dieser Position sollte man mindestens 1,85 Meter groß und 100 Kilo schwer sein. Diese Anforderungen erfüllt der 20-Jährige: „Ich bin 1,92 Meter und wiege etwa 106 Kilo.“

Bis zu 30 Stunden Training und Theorie pro Woche

Was sich in nackten Zahlen locker liest, ist das Ergebnis von Trainingsfleiß und harter Arbeit. Das Pensum, das der 20-Jährige absolviert, summiert sich auf bis zu 30 Stunden pro Woche – neben der Schule wohlgemerkt, denn er hat dieses Frühjahr seine Abiturprüfungen abgelegt und wird demnächst sein Abschlusszeugnis in den Händen halten.

„Ich trainiere an sechs Tagen die Woche, jeweils zwei Einheiten. Dazu kommen noch die ganzen Theoriestunden: Playbook lernen, Videos schauen. Von der Regeneration ganz zu schweigen: Eisbäder, Yoga, Physio“, zählt Stickel auf. Dass er es zu Stuttgart Surge geschafft hat, war kein Selbstläufer.

Tom Stickel hat sich hochgearbeitet. Von der U17 der Ludwigsburg Bulldogs kam er zu den Stuttgart Scorpions, spielte zwei Jahre in der U19. Und nun also bei Stuttgart Surge. „Ursprünglich sollten die Scorpions ein Team in der ELF stellen. Doch dann hat sich der Verein dagegen entschieden. Daraufhin wurde eine eigene GmbH gegründet. Die Scouts haben Spieler aus der ganzen Region zum Probetraining eingeladen. Dort konnten wir uns dann beweisen.“

NFL-Profi Jakob Johnson ist im Stadion

Hinzu kamen auch noch Spieler, die noch nicht den Sprung ins große Profigeschäft geschafft haben. Die könnten dann künftig über die bestehende Kooperation mit der NFL den Weg über den großen Teich gehen. Einer, der das geschafft hat, ist beim Heimspiel auch im Stadion: Jakob Johnson, in Stuttgart geborener Deutsch-Amerikaner, ist seit 2019 bei den New England Patriots und spielt heute den Münzwurf vor dem Spiel aus.

Die Partie verläuft alles andere als nach Wunsch für die Stuttgarter. Während die Offense kaum einen gelungenen Spielzug auf die Reihe bekommt, steht die Defense ständig unter Druck, die Frankfurter machen einen Touchdown nach dem anderen. Für das meiste Aufsehen sorgt aus den Reihen der Surge-Offense Quarterback Jacob Wright, der einen Gegenspieler offenbar rassistisch beleidigt. Zwar wird zunächst die Disqualifikation zurückgenommen und Wright spielt die Partie zu Ende. Doch einen Tag später wird er von seinem Team entlassen und von der ELF für den Rest der Saison gesperrt.

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Stickel kommt erst spät ins Spiel

Tom Stickel muss all dies zunächst tatenlos mitansehen, denn er kommt erst zum Ende des zweiten Viertels das erste Mal aufs Feld. „Ich bin erst 20 Jahre alt. Da wäre es schon ungewöhnlich, wenn ich direkt in der Startformation stehen würde“, erklärt er. „Zumal ich als Middle Linebacker auf einer speziellen Position spiele. Ich bin in der Defense ein bisschen das, was der Quarterback in der Offense ist. Der Quarterback gestaltet das Angriffsspiel, der Middle Linebacker koordiniert die Abwehr, muss die Nebenleute dirigieren und auf die Spielzüge des Gegners reagieren. Da gehört Erfahrung dazu.“

Immerhin: Als Stickel aufs Feld kommt, ist es das erste Mal, dass die Frankfurter nicht punkten. Dennoch ist die Begegnung bereits zur Pause entschieden. Zwar kommen die Stuttgarter im dritten und vierten Viertel besser ins Spiel und erzielen noch drei Touchdowns. Doch am Ende steht eine 20:42-Niederlage, die auch Stickel, der zum Ende hin mehr Einsatzzeit bekommt, nicht verhindern kann.

Tom Stickel liebäugelt mit professioneller Karriere

Ob dies nun ein Ausrutscher war oder die Frankfurter tatsächlich eine Nummer zu groß sind, das wird sich erst im Lauf der Saison zeigen. Insgesamt acht Teams sind zum Start der ELF dabei: sechs deutsche Mannschaften sowie je eine aus dem polnischen Wroclaw und aus Barcelona. „Das Ziel sind 24 Teams aus ganz Europa, die ELF will die stärkste Liga auf dem Kontinent werden“, sagt Tom Stickel, der das Niveau derzeit als „vergleichbar mit der GLF, der höchsten deutschen Spielklasse“ einstuft.

Und im Vergleich zu den USA? „Ich schätze mal, wir haben College-Niveau – aber nicht Division 1, eher Division 2. Man darf ja nicht vergessen: In den USA ist Football eine Religion, die Stadien sind die Kathedralen“, weiß Stickel. Sechs der zehn weltweit größten Sportstadien sind dem College-Football zuzuordnen. Dagegen wirkt das Stadion in Degerloch wie ein Hinterhof.

Nach der Saison eine Schreiner-Lehre

Und doch: Die Stimmung ist gut, Stuttgart Surge hat einen eigenen Fanclub, der trotz der Niederlage bis zum Ende Alarm macht. Auch die Resonanz der neuen Liga in den Medien ist gut: Pro 7 Maxx, in den vergangenen Jahren der Football-Spezialist unter den deutschen TV-Sendern, bringt regelmäßig Live-Übertragungen. Das macht Tom Stickel optimistisch: „Im Moment bekommen wir zwar etwas Geld, aber das ist kein Vergleich zu den USA. Aber wer weiß, vielleicht entwickelt sich das ja in den nächsten Jahren, dass man zumindest gut davon leben kann“, liebäugelt der Rielingshäuser damit, den Sport zum Beruf zu machen.

Doch jetzt will er sich auf die bis in den Herbst laufende Saison konzentrieren. „Und dann beginne ich eine Lehre als Schreiner, werde mich aber weiter voll im Football reinhängen. Mein künftiger Chef findet das zum Glück cool“, erklärt Stickel. Wer weiß: Vielleicht klappt es wie bei Jakob Johnson mit dem Sprung in die NFL.