Ein Spezialkran bringt das rund 130 Tonnen schwere Schornsteinstück in 30 Metern Höhe exakt an seinen richtigen Platz Foto: W/erner Kuhnle

Die EnBW baut in Marbach ein neues Kraftwerk zur Stabilisierung der Stromnetze. Die Großbaustelle am Neckar ist vorübergehend auch Heimat für Menschen aus vielen Nationen.

Joachim Göckelmann sitzt ganz ruhig in seinem Führerhaus. Der 36-jährige Kranführer bedient mit viel Fingerspitzengefühl seinen riesigen Spezialkran. In wenigen Sekunden wird der Mann ein rund 130 Tonnen schweres Schornsteinstück in die Höhe hieven.

Heute ist Göckelmann der wichtigste Mann auf der EnBW-Großbaustelle Neckar, unmittelbar neben dem alten Kraftwerk. Für die Dauer des Hubs hat Roland Helmenstein den gesamten Baustellenbereich rund um seinen Kran gesperrt. „Wir erreichen hier heute einen weiteren Meilenstein beim Bau der 100 Millionen teuren Netzstabilisierungsanlage. Die schlechte Nachricht: Das ist jetzt schon der dritte Tag Ausfall und damit Zeitverzug“, beschreibt er Licht und Schatten im Leben des Projektteams auf so einer großen Baustelle. Doch für Roland Helmenstein hat die Sicherheit aller Crewmitglieder immer Vorrang.

Mit ganz viel Fingerspitzengefühl

Noch vor nicht einmal zwei Wochen war Göckelmann mit seinem Kran im Ruhrgebiet und hat dort ein neues Windrad aufgestellt. Mit 56 Lkw-Fuhren ist der Kran dann zerlegt nach Marbach transportiert worden. Knapp eine Woche hat der Aufbau zu seiner jetzigen Größe hier an Ort und Stelle in Anspruch genommen.

Kaum sichtbar bewegt Göckelmann die Finger an den Hebeln des riesigen Spezialgeräts. Fast unmerklich spannen sich die dicken Drahtseile, und das schwere Schornsteinsegment schwebt langsam und scheinbar mühelos in die Höhe. Wären da nicht die jeweils 100 Tonnen Gegengewicht auf jeder Rückseite des Krans und hinten nochmals 40 Tonnen, man würde nicht vermuten, welche Lasten hier mit spielerischer Leichtigkeit bewegt werden. Im Kriechgang schiebt sich der Kettenkran auf dicken Holzbohlen Zentimeter um Zentimeter an den bereits rund 30 Meter hohen Schornstein heran.

Experten aus mehreren Ländern

Noch vor wenigen Minuten war unklar, ob der starke Südwestwind nicht die gesamte Mission scheitern lässt. Ab neun Metern Windgeschwindigkeit in der Sekunde, also rund 30 Stundenkilometer, wäre die Gefahr einer ausscherenden tonnenschweren Last zu groß geworden und die Mission verschoben worden.

Oben in luftiger Höhe ist das tonnenschwere Segment nun millimetergenau auf dem unteren Teil abgesetzt. Noch hängt die meiste Last an Göckelmanns Kranhaken. Die Spezialisten von Ansaldo Energia verschrauben mit riesigen Bolzen das Kaminstück. Erst dann wird Roland Helmenstein die Arbeit wieder freigeben. Sekundenschnell wuseln wieder überall Arbeiter auf der Baustelle umher.

Doch nicht nur tagsüber herrscht hier reges Treiben. Auf der Großbaustelle hat sich eine interessante Mischung von Spezialisten aus den unterschiedlichsten Nationen eingefunden. Für viele von ihnen ist die Baustelle nicht nur Arbeits-, sondern vorübergehend auch Lebensmittelpunkt.

Einer von ihnen ist Werner Hildebrand aus Kassel. Eigentlich wäre Hildebrand mit seinen 67 Jahren schon längst im Ruhestand. Doch hier unterstützt er als externer Oberbauleiter den EnBW-Projektleiter Bastian Bluthardt. Und so profitieren beide voneinander, denn Hildebrand bringt jahrelange Erfahrung von Großbaustellen für Kraftwerke aus aller Welt mit ein. Bluthardt wiederum kennt die ganzen EnBW-Strukturen und Abläufe wie seine Westentasche.

In der ganzen Welt im Einsatz

Angelo Loverdi dagegen kommt vom Kraftanlagenbauer Ansaldo Energia aus Genua. Sein Unternehmen liefert der EnBW die so wichtigen Generatorteile samt Kraftwerkstechnologie. Angelo Loverdi weilt freilich weder in Genua noch in seiner ursprünglich süditalienischen Heimat länger. Die meiste Zeit ist er bei speziellen Einsätzen mit seinem Arbeitgeber in der ganzen Welt unterwegs. „Stuttgart is beautiful“ beschreibt er begeistert in prägnant italienisch eingefärbtem Englisch, wie gut es ihm hier am Neckar gefällt. Arbeitet Loverdi einmal nicht, erkundet er auf seinem Mountainbike die Region.

So haben all die Menschen aus ganz vielen Ländern trotz unterschiedlichem kulturellen Hintergrund hier ein gemeinsames Ziel vor Augen: Im Herbst werden sie zusammen mit der EnBW das Kraftwerk für mehr Netzstabilität in Betrieb nehmen. Und dann werden viele von ihnen zur nächsten Aufgabe weiterziehen – wieder weit von ihrer Heimat entfernt.

Was in Marbach hingegen bleiben wird, ist ein Kraftwerk, das zwar nur wenige Stunden im Jahr laufen wird – aber damit mehr Sicherheit für unsere Stromnetze bedeutet, selbst wenn Wind und Sonne einmal nicht so stabil Energie liefern werden.