Osama Hamid (rechts) will nach dem Praktikum sein Hobby zum Beruf machen. Foto: privat

Osama Hamid ist mit 14 alleine nach Europa geflohen. Jetzt will er Fitness-Trainer werden.

Großbottwar - Wenn Osama Hamid den Sportlern im Fitnessclub Goldjunge in Großbottwar Geräte erklärt oder die Haltung bei Übungen korrigiert, wirkt er wie ein normaler junger Mann. Selbstbewusst begrüßt er Interessierte zum Probetraining oder unterhält sich mit Freunden. Kaum einer würde da auf die Idee kommen, welchen beschwerlichen Weg der heute 17-Jährige hinter sich hat. „Irgendwann war es mir einfach egal, ob ich lebe oder sterbe“, erzählt er, wenn er auf seine Jugend zurückblickt. Die hat er größtenteils auf der Flucht verbracht. Osama ist mit 14 Jahren alleine aus der Türkei nach Deutschland geflohen – für eine bessere Zukunft für seine Familie.

Geboren wurde Osama in Syrien, also gut 3700 Kilometer entfernt von Murr, wo er heute lebt. Doch mit dem Kriegsausbruch geriet auch sein Vater ins Fadenkreuz. „Er war Journalist bei einer großen Zeitung“, erzählt Osama. „Und er wollte auch weiter neutral berichten.“ Dafür, dass er über die Taten beider Seiten schrieb, erhielt er Todesdrohungen. Deshalb zu fliehen sei aber nicht in Frage gekommen: „Vater wollte bleiben.“ Dann ereilte die Familie der erste schwere Schicksalsschlag. Einer von Osamas Brüdern wurde getötet. Die Mutter sprach ein Machtwort, die Familie machte sich mit ein paar Habseligkeiten auf den Weg in die benachbarte Türkei. Eine Strecke, die sonst in zehn Stunden zu bewältigen gewesen wäre. „Wir haben aber mehr als drei Wochen gebraucht.“ Die Familie geriet in eine von ISIS besetzte Stadt, Barrikaden versperrten die Straßen. Freunde des Vaters boten Verstecke an, immer wieder flohen sie von Wohnung zu Wohnung: „Wir konnten nicht weiter, aber auch nicht zurück.“

Es folgte eine Erfahrung, die Osama Hamid auf seinem Weg noch öfter machen sollte: Geld bewegt vieles. Eine Zahlung half schließlich auch dabei, die Stadt zu verlassen, „aber ich weiß nicht, wer das Geld bekommen hat“. An der Grenze zur Türkei wurde der Familie ebenfalls gegen Bezahlung ein Weg hinüber gezeigt. Da die Ersparnisse zur Neige gingen, folgte ein längerer Aufenthalt. „Wir waren zwar da, aber wir haben nicht gelebt“, erinnert sich Osama. Der Vater verdiente etwas Geld in der Müllentsorgung. Er selbst half in einem Imbiss mit – für einen kargen Lohn bei mehr als 12 Stunden Arbeit am Tag. Den Lohn sparte die Familie auf, um wenigstens einer Person die Fahrt über das Mittlermeer zu finanzieren. „Ich habe mich freiwillig gemeldet“, so Osama. Nach einigen Diskussionen mit dem Vater trat er die Flucht an – und fand fast sein Ende.

Es brauchte mehrere Versuche, bis Osama Hamid überhaupt mit dem Boot starten konnte. Jedes Mal traten Motorschäden auf. Einmal überlebte er nur, weil ein Mann ihn zurück an den Strand zog. Auch beim dritten Versuch fiel der Motor aus. Diesmal auf dem Meer: „Ich war sicher, dass ich jetzt sterbe.“ Wasser begann ins Boot zu laufen, das eigentlich für ein bis zwei Personen ausgelegt war, aber mit deutlich mehr Menschen gefüllt war. Den Schleusern sei es egal gewesen, wer überlebt. Einige Männer begannen mit den Händen zu paddeln – gut zehn Stunden dauerte die Überfahrt. Das Mittelmeer sollte nicht die letzte Hürde sein. Von Griechenland führte der Weg nach Mazedonien und per vom Militär gestellten Bus weiter nach Serbien. Dort war erst einmal Endstation an der ungarischen Grenze. Bis die sich eines Tages doch öffnete – für eine grausame Überraschung. „Das Militär schlug auf uns ein“, erzählt Osama. Serbische Soldaten halfen ihnen zurück über die Grenze. Der damals 14-Jährige war so hart auf den Kopf geschlagen worden, dass er ein paar Tage ohne Bewusstsein war: „Mein Vater dachte, ich wäre gestorben.“

An der Grenze zu Ungarn stieg die Zahl der wartenden Menschen mittlerweile bis in die Tausende an. Einige „Männer mit starkem Herzen“ hätten die Polizisten schließlich überwältigt, woraufhin alle nach Ungarn drängten. Auch Osama schloss sich dem Pulk an und marschierte bis Österreich – Besitz oder gar ein Handy hatte er da schon lange nicht mehr: „Ich habe Leute um Wasser angebettelt und im Wald geschlafen.“ Wobei nur bedingt von Schlaf gesprochen werden könne, mehr als zwei Stunden am Stück habe er keine Ruhe gefunden. Richtig geschlafen habe er erst wieder in der Unterkunft, in die ihn ein Bus an der Grenze brachte. Hier habe er nach gut 15 Tagen auch erstmals wieder seine Familie über ein Festnetz-Telefon anrufen können: „Mein Vater weinte.“ Ein Wunsch-Ziel habe er nicht gehabt. Eine Gruppe von Freunden machte sich jedoch auf den Weg nach Deutschland, um von dort weiter in die Niederlande zu gehen.

Er habe sich einfach angeschlossen und sei einer Unterkunft zugewiesen worden. „Dort habe ich mich richtig wohl gefühlt“, erzählt Osama. Die Menschen hätten ihn gut behandelt. Außerdem hatte er eine arabische Familie kennengelernt, die den unbegleiteten Minderjährigen wie einen Sohn aufgenommen hatte. „Ich habe das alles meinem Vater erzählt, und er meinte, wenn es mir gut geht, soll ich bleiben.“ Dann sei er aber in eine Unterkunft für unbegleitete Minderjährige nach Suhl.

In Thüringen bekam er dann allerdings Probleme. So wurde ihm etwa einmal ein Diebstahl unterstellt, weil er keinen Bon mehr hatte: „Da wusste ich, dass ich so schnell wie möglich Deutsch lernen muss, um mich zu verständigen.“ Die Familie habe er in dieser Zeit aus den Augen verloren, da sie verlegt wurden – bis heute konnte er sie nicht ausfindig machen. Der Umzug in eine WG habe seine Situation verbessert: „Ich habe Englisch und Deutsch gelernt und eine Freundin gehabt.“ Nachdem er in Thüringen gut zwei Jahre verbracht hatte, erreichte Osama ein Anruf, der schöner nicht hätte sein können: Seine Familie teilte ihm mit, dass sie es ebenfalls nach Deutschland geschafft hätten. „Ich konnte es nicht glauben.“ Für Osama stand der Entschluss fest, dass er zu seiner Familie geht. Doch das war nicht so einfach. „Die Mitarbeiter der Unterkunft in Thüringen wollten mich nicht wirklich gehen lassen.“

Osama half dort nämlich mittlerweile Neuankömmlingen beim Eingewöhnen und übersetzte für sie. Damit war eine große Hilfe vor Ort geworden. Darüber hinaus wurde ihm auch kein Fahrtgeld in Aussicht gestellt: „Ich bin aber schon von Griechenland bis Deutschland gekommen. Ich wäre damals auch von Thüringen nach Baden-Württemberg gelaufen.“ Letztlich half ihm ein Freund aus. Gemeinsam mit seiner Familie kam Osama Hamid in einer Unterkunft in Pleidelsheim unter. Dank des Arbeitskreises Asyl fand die Familie schließlich 2018 ein Haus in Murr.

Fitness kam in dieser Zeit als Hobby dazu. Gemeinsam mit einem Bruder stieg er ins Training ein. Die Suche nach dem passenden Studio sei dann gar nicht so leicht gewesen: „Ich wollte Miteinander statt Konkurrenz.“ So war Osama dann auf Goldjunge gestoßen und hatte sich dort direkt wohlgefühlt: „Dort wird jeder wie ein Freund behandelt.“ Je länger er dabei war, desto klarer wurde ihm: „Ich will mein Hobby auch zum Beruf machen.“ Derzeit besucht er noch die Ludwigsburger Carl-Schäfer-Schule. Den Hauptschulabschluss hat Osama Hamid bereits in der Tasche. Nun will der 17-Jährige noch seine Halbjahres-Noten abwarten. Wenn diese gut genug sind, will er an die Realschule.

Ansonsten beginne er seine Ausbildung zum Trainer. Den Platz bei Goldjunge hat Osama sicher, bestätigt Robin Merkle, der das Goldjunge-Studio in Großbottwar betreut „Wenn jemand so mit dem Herzen dabei ist, unterstützen wir das.“ Und das hat Osama jetzt im Praktikum gezeigt: Egal ob beim Training, dem Einlernen von Anfängern oder beim Saubermachen im Studio: „Ich habe alles gerne gemacht und helfe einfach gerne.“ Nach einem langen Weg, ist Osama Hamid nun angekommen. Zurück nach Syrien will er nicht – wohin auch?. „Unser Haus wurde von Raketen zerstört.“ Er sieht dort keine Zukunft mehr für sich. In Deutschland habe er eine neue Heimat gefunden: „Das Land hat mir so viel gegeben. Ich will etwas aus mir machen und das zurückgeben.“