Hermann Breitenbücher ist im Film Sabine Willmanns der „Apfelmann“ porträtiert worden. Foto: Stadtarchiv

Das Stadtarchiv in Marbach hat den Nachlass des Landwirtes Hermann Breitenbücher untersucht. Zu dessen Vergangenheit nimmt die Regisseurin Sabine Willmann Stellung. Sie hatte Breitenbücher im Film „Der Apfelmann“ porträtiert.

Marbach - Die Marbacher Regisseurin Sabine Willmann nimmt Stellung zu den Funden im Nachlass des Marbacher Landwirts Hermann Breitenbücher (wir berichteten):

„Ich war einigermaßen erstaunt, als mich in Reykjavik die Nachricht eines Artikels in der Marbacher Zeitung über Hermann Breitenbücher erreichte. Schlagartig wurde ich von der Weite am Polarkreis in den doch manchmal sehr kleinen deutschen Blickwinkel zurückgeholt.

Viele erinnern sich noch an die beiden vollen Stadthallenvorführungen meines Films „Der Apfelmann“. Wie viel kann ein Nachlass abschließend über eine Person aussagen? Heikle Winkel ausleuchten? Irritierend sind in jedem Fall die Zeilen unter dem Foto, die Hermann im Profil mit Kriegsmarinemütze zeigen: „Hermann Breitenbücher hat als junger Soldat in der Kriegsmarine gedient. Jetzt stellt sich die Frage, ob er im Alter anfällig für die NS-Ideologie war.“

Sicher nicht im Alter anfällig. Vielmehr ist es so: Hermann Breitenbücher hat sich immer wieder mit der Einordnung des Dritten Reiches beschäftigt, mit seiner Schuld, seiner Beteiligung, seinem Anteil gekämpft, weil er Kind und Jugendlicher war in der bewussten Zeit. Und, weil er seinem Vater sagte, der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen. Er hat sich also in der Zeit selbst auch noch gegen die propagierte Meinung gestellt, das aber wohl nur dem Vater gegenüber geschafft, „der ihn an die Wand stellen wollte”. Die Mutter hätte das verhindert. Und, er hat bis zuletzt Antworten gesucht. Das unterscheidet ihn von vielen anderen, die im Verdrängen verhaftet blieben.

Und ich bin einer Meinung mit Oliver von Schaewen, der diese Prägung auch als wahrscheinlichen Hintergrund für die „Anfälligkeit“ nennt. Herr Maisch wird von von Schaewen dann so wiedergegeben: „Die Äußerungen in den persönlichen Aufzeichnungen lassen laut Maisch den Rückschluss zu, dass Breitenbücher die Werke nicht nur las, um sich mit dem Gedankengut aus einer gefestigten ablehnenden Position heraus auseinanderzusetzen.“ Man soll also bestimmte Bücher nur, wenn man nicht mehr Suchender ist, wenn man – in Ablehnung – gefestigt ist, in seinem Bücherschrank haben. Und das am besten noch in persönlichen Aufzeichnungen entsprechend dokumentieren? Was, wenn Breitenbücher gar nichts in persönlichen Aufzeichnungen festgehalten hätte? Was hätte man dann aus seinem Bücherschrank geschlossen?

Was, wenn man die Bücher hat und liest, um sich ein Bild zu verschaffen, sich zu festigen, womöglich in Ablehnung? Was, wenn man dann doch irgendwann gefestigt ist („37 Thesen gegen die Gaskammern” wurden 1988 herausgebracht) und die Bücher einfach behalten hat, weil man als Schwabe keine wegwirft? Anzumerken ist auch: „Die Rassenkunde” ist 1926 erschienen, kann also auch vom Vater stammen. Dieser hat übrigens den Ersten Weltkrieg aktiv miterlebt, er ist auf Fotos mit Lazarettbinde am Arm in Uniform mit anderen in der Gruppe zu sehen. Verurteilt wurde er zu den 600  Reichsmark per Spruchkammerurteil mit der Begründung „Mitläufer“. Die Wunden gehen weit zurück und sind tief. Und im Gegensatz zu heute, war es nicht üblich, in Therapien zu gehen. Hilfreich wäre noch gewesen anzugeben, von wann diese persönlichen Aufzeichnungen stammen, die den Rückschluss zulassen, dass Breitenbücher sich nicht nur in gefestigter Ablehnung mit der einschlägigen Literatur befasst hat: von 1948 oder davor, von 1955, von 1960, von 1970, 80, 90, 2008 … Er hatte außerdem beim Lesen ein sehr breites Spektrum, war also nicht in einer Richtung festgefahren. So las er zum Beispiel auch das Buch von Papst Benedikt XVI. oder Bücher von Max Eyth, Literatur über Weinbau etc.

Es kann viel verlangt sein, von einem 22 Jahre alten frühen Kriegsheimkehrer (1946), sofort alles Negative der vergangenen Jahre benennen und ablehnen zu können und nicht auszublenden. Psychisch scheint mir das eine einfache Erklärung zu haben, man müsste das, was man zwölf Jahre lang, vom 9. bis fast zum 21. Lebenjahr, gut fand oder sich damit arrangiert hat, ablehnen. Wir wissen auch, nicht alle Menschen sind Helden. Was lesen wir daraus? Der Mensch ist verdammt konform- und harmoniebedürftig. Man möchte einen von der Geschichte geläuterten ehemaligen HJler, man möchte eine reine Persönlichkeit, man möchte, dass einer sein Trauma überwindet. Man möchte einen Idealtypen von Mensch. Kommt uns das aus dem Artikel bekannt vor? Der Mensch macht Fehler. In unserer Gesellschaft wird meines Erachtens jedoch mehr und mehr vermittelt, dass er die nicht machen darf, sie auch nicht behalten darf oder nicht über sie nicht hinwegkommen können darf. Er muss scheinbar in seinem Streben nach Fehlerfreiheit immer erfolgreich sein.

Wenn der angehende Archivar der Meinung ist, dass man das zu sein hat, also im Alter gefestigt, gefeit gegen alles, was einen einmal angefochten hat bei zudem sehr schwierigen häuslichen Verhältnissen bis der Vater – im selben Haus lebend – starb, als Hermann 50 Jahre alt war, muss ich ihm leider mit der Realität kommen: Das gelingt nicht nur unsympathischen Menschen nicht, sondern auch sympathischen. Aber lassen wir ihn erst einmal in ein Alter kommen. Übrigens: Hermann hat auch dann noch Abschlüsse gemacht, weil der wohl niederdrückende Geist des Vaters nicht mehr über ihm schwebte. So mächtig war das alles für ihn.

Was ich nach unzähligen Filmgesprächen nach Apfelmann-Filmvorführungen seit dem Jahr 2010 sagen kann: Die Menschen, damals meist Mittvierziger, kamen zu mir, dankten für den Film und sagten: „Jetzt wissen wir, warum unsere Eltern nichts erzählt, nicht über diese Zeit gesprochen haben. Wir verstehen das jetzt besser. Danke.“

In meinem Film besucht ein SWR 2-Redakteur Hermann, weil er 2009 ein Feature, Format „Die Töne kehren zurück, 75 Jahre nach den Schillerfeiern“, mit Zeitzeugen der Marbacher HJ-Schillerfeiern 1934 machen wollte, da war Hermann knapp 10 Jahre alt. Ich filmte dabei und der Redakteur konfrontierte Hermann mit dem HJ-Fahnenlied „Vorwärts, vorwärts“, das dort gesungen worden war. Da singt Hermann vor dem Redakteur plötzlich mit: „Unsre Fahne flattert uns voran. Unsre Fahne ist die neue Zeit. Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit! Ja! Die Fahne ist mehr als der Tod!”

Die Szene im Film hat auch gezeigt, wie tief diese Kindheitsprägungen sitzen und wie – es scheint fast hilflos – Hermann reagierte, weil er vom Verstand her inzwischen nur zu gut wusste, dass es kein feines Gedankengut ist, er aber trotzdem mitsang, weil er eine schöne Kindheits- und Jugenderinnerung damit verband.

Man denkt vielleicht zu kurz oder geht zu sehr von sich selbst aus, es sei so leicht, sich bis zum Alter in Ablehnung gefestigt zu haben und zählt Werke aus Breitenbüchers Bücherschrank auf, die eine bestimmte Gesinnung belegen sollen. Auch ich habe das Sarrazin-Buch im Schrank und ich schreibe und telefoniere mit einer AfD-Wählerin (an dieser Stelle bitte richtig lesen, Wählerin – nicht Mitglied), ja treffe mich sogar mit ihr. Das Letzte was ich deshalb bin, ist rechts. Ich möchte im Gespräch bleiben, ich möchte Prozesse und Menschen verstehen und nicht vorverurteilen. Es geht um einen Fund, der wie eine Neuigkeit einer Zeitung von vorgestern ist. Hermann ist nun seit neun Jahren tot, und huch, nun ist man überrascht und überlegt sogar eine für 2024 geplante Ausstellung über sein Leben nicht zu machen. Es kommt auf die Ausstellung an, sie muss nicht so sein, dass sie eine Ehrung aller Facetten darstellt, sie kann Fragen stellen.

Es ist für eine Gesellschaft viel fruchtbarer, Widersprüchliches nicht auszugrenzen, sondern sich – auch öffentlich – damit zu beschäftigen und die in diesen Tagen so viel beschworene und vermisste Debattenkultur wiederzubeleben.“