Dieter Zagel (rechts) mit seiner Familie bei einem Treffen in Südafrika: Sohn Konstantin, Schwiegersohn Bernd, Tochter Dieter Zagels Marionette symbolisiert, was so alles an einem Chirurgen zerrt im Gesundheitssystem heutzutage. Foto: privat

Dieter Zagel wird in der Fremde überraschend Vater, seine erste Ehe zerbricht

Marbach - "Keines war geplant. Alle meine Kinder sind Geschenke Gottes“, sagt Dieter Zagel überzeugt. Als seine vier Kinder und Ehefrau Sabine vor drei Jahren gemeinsam nach Südafrika reisen, wandeln sie auf den frühen Lebensspuren ihres Vaters und Ehemannes, des bis 2014 in Marbach praktizierenden Chirurgen, Stadtrats und Mitglieds der Freiwilligen Feuerwehr, Dieter Zagel. Sie kehren aber auch zurück zu den Wurzeln von Sohn Sebastian, der 1981 im heutigen Südosten von Südafrika das Licht der Welt erblickt.

Doch der Reihe nach: Während des Medizinstudiums wird Zagel vom Wehrdienst zurückgestellt, mit 30 Jahren verweigert er und kommt schließlich als Entwicklungshelfer nach Südafrika. Von 1980 bis 1983 leistet er dort seinen Ersatzdienst als „staatlich geprüfter Kriegsdienstverweigerer“, wie er heute scherzt, denn Zagel musste noch zur mündlichen „Gewissenbefragung“ vor einer Kommission erscheinen. „Mein Traum war die Südsee“, erinnert sich Zagel. Doch bleibt ihm am Ende letztlich keine Wahl. „Dann wenigstens Südafrika“, sagt er sich damals. Am Eastern Cape, wohin der gebürtige Ulmer abgeordnet wird, breitet sich 1980 jedoch nicht das Staatsgebiet von Südafrika, sondern der Transkei aus. Der heute nicht mehr existierende Staat war ein im Zuge der Apartheidspolitik in Südafrika 1976 staatlich unabhängig gewordenes „Homeland“ der schwarzen Bevölkerung. Dort tritt der in Frankfurt aufgewachsene Zagel als Arzt seinen Dienst im Krankenhaus an, füllt eine Lücke in der medizinischen Versorgung.

Begleitet wird er von seiner ersten Frau, die er vor der Abreise standesamtlich heiratet. Zwei Frauenärzte in Deutschland bestätigen, sie könne nicht schwanger werden. Als ihre Periode ausbleibt, will sie es nicht glauben, zweifelt auch an dem Urteil der Ärzte in der Klinik ihres Manns, der von der Sekretärin bereits Glückwünsche zu seiner unverhofften Vaterschaft erhält. Erste Risse zeigen sich im Verhältnis, denn die werdende Mutter möchte nicht in der Klinik der Schwarzen entbinden, sondern in der nächstgrößeren Stadt Umtata. Das wird der Geburtsort von Sebastian, Zagels erstem Sohn. „Nach der Rückkehr war es schnell vorbei mit der Ehe“, sagt der 67-jährige Chirurg im Ruhestand heute gefasst. Damals stürzt ihn das Scheitern jedoch in eine schwere Krise. Die Mutter erhält das Sorgerecht, das Verhältnis der getrennten jungen Eltern ist äußerst problematisch. Jahre braucht es für den Vater, das Zerwürfnis zu verwinden. Vor allem die Großeltern von Sebastian pflegen die Kontakte zwischen den Familien jedoch weiter. Zagel verliert nie die Verbindung zu seinem Sohn. Sebastian verabredet sich aus heiterem Himmel, 13 Jahre alt ist er damals, mit seinem Vater und dessen neuer Frau Sabine. Plötzlich verkündet den beiden: „Ich möchte bei euch leben.“

Dieter Zagel nimmt die Idee im ersten Moment nicht für bare Münze, glaubt an die Spinnerei eines Heranwachsenden oder einen Scherz. Doch Sabine gibt ihm einen Klaps: „Der meint das ernst!“ Dieter Zagel ist wie vom Donner gerührt. Heute meint er: „Das war für mich eine Sternstunde!“ Gesagt, getan: Sabine habe Sebastian aufgenommen wie ein eigenes Kind, aus fünf Zagels – Sabines und Dieters gemeinsame Kinder heißen Penelope, Kassandra und Konstantin – werden sechs. Der Platz im Marbacher Wohnhaus der Familie in der Goethestraße wird so jedoch knapp. Das Gebäude datiert aus dem Jahr 1905: „Das war das, was wir uns leisten konnten.“

Als sich Sebastian die Rückkehr zu seinem Vater wünscht, ist gerade die erste Etage neu vermietet. Kurzerhand beschließt Dieter Zagel, den Dachstuhl in Eigenregie auszubauen, um künftig über und unter den neuen Mietern zu leben. „Ich konnte die ja nicht rausschmeißen.“ Finanziell seien sie nicht auf Rosen gebettet gewesen, ihm liege aber auch das Praktische, erklärt er. Sicher ist aber auch: „Das war eine harte Zeit.“

Denn Dieter Zagel ist zwischen 1991 bis 1999 am Marbacher Krankenhaus als Facharzt angestellt. In der Bereitschaftszeit kann er immerhin zu Hause auf Einsätze warten und dabei Zeit mit der Familie verbringen. Dort pflegen die Zagels ein festes Essens-Ritual: „Die Mittagszeit war uns heilig.“ 2000 öffnet er seine eigene Praxis am König-Wilhelm-Platz mit einer Besonderheit: Als die Kinder nacheinander 16 werden, helfen sie in der Praxis am Empfang aus, verdienen sich einige Euro hinzu – lebendige Familienpraxis.

2014 schließt er jedoch auch mit diesem Kapitel ab. „Ich bin Chirurg und kein Buchhalter“, sagt er bestimmt. In den letzten Jahren seiner Tätigkeit nimmt die Bürokratie immer mehr überhand, es beschleicht ihn ein ungutes Gefühl, was das Werteverständnis des heutigen Gesundheitssystems betrifft: „Die Patienten stören doch bei der Dokumentation!“ Sofort plant er eine Reise mit Sebastian zu seinen Wurzeln nach Umtata, ein Jahr später folgt die ganze Familie. Dort öffnen sich Dieter Zagel Türen und Herzen, wenn er seine paar Brocken der Muttersprache der Xhosa zu Gehör bringt. So werden die Einheimischen ethnisch bezeichnet. Zagels Augen strahlen, als er die ihm bekannten Wörter mit Klicklauten intoniert, die Mitteleuropäern fremd sind. Er fühlt sich Südafrika und seinen Menschen verbunden, „es ist eine meiner Heimaten“ neben seinem Geburtsort Ulm, den Heimatorten seiner Herkunftsfamilie in Bayern und Franken sowie Frankfurt, wo er aufgewachsen ist.

Seinen Kindern Offenheit und Akzeptanz gegenüber Menschen anderer Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit vorzuleben, ist Dieter Zagel sehr wichtig. Wie in Südafrika trifft sich die ganze Familie „zwei- bis dreimal“ im Jahr, ergänzt um Partner und weitere Verwandte: „Diese Familienzeit möchte ich nicht missen“, sagt Dieter Zagel froh.