Sexueller Missbrauch von Kindern ist auch in der katholischen Kirche vorgekommen – Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Die Basis der katholischen Kirche sucht in Veranstaltungen eine Haltung zu den vielen Missbrauchsfällen.

Marbach/Ludwigsburg - Das Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Kindern und anderen Personen in der katholischen Kirche ist groß. Das hat die Studie ergeben, die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben und vor etwa einem Jahr veröffentlicht wurde. Dieser Tage haben die Bischöfe in Fulda um eine mögliche Finanzierung für Zahlungen an Opfer verhandelt. Die Verunsicherung an der Basis ist erheblich – auch deshalb bietet das katholische Kirchendekanat in Kooperation mit Partnern die Veranstaltungsreihe „Kirche. Missbrauch.Zukunft!? – wir bleiben dran“ an. Wir haben uns darüber mit Stefan Spitznagel, dem katholischen Pfarrer für Marbach, Rielingshausen, Erdmannhausen und Benningen, unterhalten.

Warum ist es wichtig, dass die katholische Kirche weiter über sexuellen Missbrauch in ihren Reihen redet?

Ich fürchte, dass wir bisher nur die Spitze des Eisbergs sehen. Wir sind noch dabei, die Fakten zu erkennen. Die Studie der deutschen Bischöfe hat vor einem Jahr erst einen Teil offengelegt, und das hat schon wie eine Bombe gewirkt.

Was hat daran so erstaunt?

Die meisten sind über das Ausmaß und die weltweite Dimension erschrocken. Früher hieß es: „Es sind Einzelfälle, und die muss man einzeln behandeln. Wenn man denen nachgeht und die aus der Welt schafft, dann ist das Thema erledigt.“ Es ist auch wichtig, dran zu bleiben, weil man die Ursachen noch nicht bearbeitet hat.

Was muss man befürchten, wenn bisher nur die „Spitze des Eisbergs“ bekannt ist – könnten weite Teile der Kirchenhierarchie zumindest in der Mitwisserschaft und Deckung der Straftaten betroffen sein?

Man muss schauen, aber mir gefällt immer noch die Formulierung von Bischof Wilmers aus Hildesheim: „Der Missbrauch steckt in der DNA der Kirche.“ Das heißt, dass es auch systembedingt ist. Wobei man sagen muss, dass sexueller Missbrauch auch in Familien, Internaten und Sportvereinen vorkommt. Aber welche Institution hat sich bisher ernsthaft mit dem Thema beschäftigt? Immerhin stellen wir uns jetzt der Frage.

Schwarze Schafe wird es immer geben. Was können Einrichtungen dagegen tun?

Die erste Reaktion der Bischöfe vor zehn Jahren war die Präventionsarbeit. Die wird meiner Meinung nach sehr gut betrieben. Sie darf nicht zum Alibi oder zum Ablenkungsmanöver werden, aber sie ist ein wichtiger Teil. Es gibt etwa auch Ehrenerklärungen in Sportvereinen. Man sollte sensibilisieren, ohne alle Mitarbeiter unter Generalverdacht zu stellen. Die Me-too-Bewegung ist auch ein wichtiger Baustein.

Lassen sich kranke Persönlichkeiten überhaupt durch so etwas abhalten?

Wahrscheinlich kann man nicht mehr, als Rahmenbedingungen zu schaffen. Angefangen damit, dass nicht ein Erwachsener allein ist mit Kindern. Das Krankhafte lässt sich bei manchen therapieren, aber es läuft auch viel im Internet, was man nicht immer kontrollieren kann.

Bietet sich die katholische Kirche aufgrund des Pflichtzölibats für Kleriker nicht auch für pädophile oder kranke Persönlichkeiten als Sammelbecken an?

Wissenschaftlich ist erwiesen, dass von den Pädophilen die allerwenigsten aktiv werden. Die Pädophilie ist inzwischen als Krankheit anerkannt. Der meiste sexuelle Missbrauch ist ein Machtmissbrauch. Der wird begünstigt, wo es Abhängigkeitsverhältnisse gibt. Zwischen Trainer und Turnerin etwa, oder in der Kirche, wo eine Hierarchie als heilige Ordnung vorgegeben wird und Priester als unantastbar gelten, macht es das besonders schwierig.

Wie kommt es bei Machtmissbrauch konkret zu sexuellen Übergriffen?

Im Film „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ wird gezeigt, wie Priester systematisch die Ordensfrauen missbraucht haben. Die Nonnen haben Gehorsam versprochen, da wird theologisiert, indem der Priester perverserweise sagt, er übertrage jetzt die Liebe Christi auf sie. An anderer Stelle wird gedroht: Wenn du das sagst, dann kommst du ins Heim.

Besteht die Gefahr, dass sich das Bild einer sexuell verklemmten und kranken Kirche in der Öffentlichkeit verfestigt – oder ist Aufklärung wichtig, um zu zeigen: Die machen sich Gedanken?

So bitter es ist, wir haben keine Wahl, als tabulos aufzuklären. Manche katholischen Bischöfe haben gebremst, weil sie befürchten, wenn noch mehr rauskommt, stehen wir noch schlechter da. Aber da würde die Kirche ja nur an sich denken. Sobald ich auf die Opfer schaue, kann es nicht mehr um den Imageschaden der Kirche gehen. Das war ja das Problem der Vertuschung: Man wollte nur den Imageschaden begrenzen und die Opfer ruhigstellen – wenn etwa Papst Benedikt 2000 Akten von Missbrauchsfällen aus den USA vernichten lässt.

Wenn die Kirche in diesem Bereich versagt hat – was kann sie besser machen?

Sie muss gegen sexuellen Missbrauch so vorgehen wie im Staatswesen auch. Sie sollte die Ursachen bekämpfen – das geht ins Mark und betrifft das Selbstverständnis der Kirche. Es fällt denen schwer, die fürchten, dass ihnen die Macht weggenommen wird.

Meinen Sie die zölibatäre Machtelite? Steckt hinter dem Thema das Bedürfnis nach tiefer greifenden Reformen in der katholischen Kirche?

Die Kirche hat faktisch die Macht schon verloren. Sie ist nicht mehr die anerkannte Moralinstanz. Die Studie hat gezeigt: Sie hat sich als solche aufgespielt, sie hat sich aber durch ihr eigenes Verhalten als unglaubwürdig erwiesen. Es werden nur noch Minderheiten sein, die die Kirche in dieser Rolle ernst nehmen.

Die Gesprächsreihe „Kirche.Missbrauch.Zukunft!“ geht auf das Thema ausführlich ein. Was erwarten Sie von der Veranstaltungsreihe?

Wir wollen als katholisches Kirchendekanat an verschiedenen Orten ein Gesprächsforum bieten. Wir müssen erst mal sprachfähig werden und das Entsetzen überwinden. Schauen, wie wir miteinander darüber reden.

In Marbach kommt am Montag, 14. Oktober, über „Verschwiegene Wunden. Die katholische Kirche und ihr problematischer Umgang mit Sexualität“ der Psychotherapeut Wunibald Müller zu Wort. Warum ist Ihnen der Psychotherapeut wichtig?

Wunibald Müller hat sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als Menschen theologisch und therapeutisch zu begleiten, die in Krisensituationen sind. Er ist ein persönlich überzeugender Mensch, der aus Liebe zu Gott und Kirche auch schon viele Bücher veröffentlicht hat. Er fasziniert mich und ist für mich sehr glaubwürdig.

Worum wird es an dem Abend gehen?

Auch um das gestörte Verhältnis der Kirche zur Sexualität. Sie hat meiner Meinung nach noch nicht begriffen, dass der Mensch keine Sexualität „hat“, sondern dass er ein sexuelles Wesen „ist“. Einen guten Umgang mit Sexualität zu entwickeln, hat die Kirche noch nicht geschafft.

Was kann die Kirche den Menschen an Positivem mitgeben, damit deren Sexualität in gelungene, liebevolle Beziehungen eingebunden sein kann?

Unsere Kirche hinkt oft hinterher, etwa beim Thema „Ehe für alle“. Es heißt, wir können nicht dem Zeitgeist folgen. Dabei müsste es umgekehrt sein: Die Kirche müsste aufgrund ihres Menschenbildes die Vorreiterin sein.

Wie ist das zu verstehen?

Die Kirche müsste ohne gesellschaftlichen Trends einfach nur zu folgen in Vorleistung gehen. Die erste Aussage müsste sein: „Du bist von Gott geliebt und deshalb zur Liebe fähig.“ Stattdessen steckt vielfach noch in den Köpfen: „Der Mensch ist ein Sünder – und wird trotzdem noch von Gott geliebt, aber eigentlich sind wir Sünder.“ Es ist eben ein anderes Fundament für den Umgang mit Sexualität, wenn uns zugesagt wird, dass wir die Kraft haben zu lieben, weil uns Gott zuerst liebt.