Die Ästhetik der Nacktheit war in Sybille Wohlfahrts Garage zu sehen. Foto: Kuhnle

Die Nachtschicht Kunst hat den Besuchern an 16 verschiedenen Orte eine Galerie-Atmosphäre der Superlative geboten.

Marbach - Der Regenschirm und die Regenjacke waren ständiger Begleiter bei der Nachtschicht Kunst am Freitagabend. Gewitterluft und eine hohe Luftfeuchtigkeit haben in geschlossenen Räumen obendrein für Schwüle und vermutlich auch dafür gesorgt, dass es weniger Geknubbel und Gedränge, als in den Vorjahren gab. Doch pure Begeisterung zeigte sich auf den Gesichtern all jener, die sich an dem regnerischen Abend aufgemacht haben, um eine Galerie-Atmosphäre der Superlative und Kunst auf ungewöhnlich vielen Ebenen zu erleben. Die gezeigten Objekte sind genauso individuell und unverwechselbar wie die Hände, die sie geschaffen haben.

Kurz nachdem Bürgermeister Jan Trost den Startschuss für die Neuauflage der Marbacher Nachtschicht Kunst im Rathaus gegeben hat, waren in Marbach zahlreiche Fußgänger zu sehen, die an 16 verschiedenen Orten, Unterschlupf vor dem Regen und Kunstgenuss suchten. Birger Laing etwa hatte am Freitagabend in seinem „Antiquariat Friedrich“ alle Hände voll zu tun, um dem Besucheransturm gerecht zu werden und die Gäste mit einem Glas Rosé zu erfreuen. Galerienacht-Neuling Gudrun Bernhardt hat seine Auslagen mit ihrer Papierkunst bereichert und neben vielen Gästen auch fünf ihrer Arbeitskollegen damit in den Bann gezogen. „Ungeahnte Talente schlummern in ihr“, bemerkte etwa Martina Stecker anerkennend. „Witzig, was man Büchern auf originelle Art alles antun kann“, kommentierte ein anderer Betrachter, der sich einem Papierstreifenschwall gegenübersah, der an einen überbordenden Haarschopf erinnert, dessen Strähnen aus dem Buch sprießen. Aber auch originelle Papiertheater oder filigrane Blüten geben die mit der Schere kunstvoll „frisierten“ Buchseiten her.

Katrin Köhler ist die Einzige im Künstlerverbund, die sich thematisch dem glitzernden Geschmeide zuwendet. Kuschelig eng, aber überraschend übersichtlich ist es auf den zwölf Quadratmetern, die eine Vielfalt an Emaille-Schönheiten präsentieren. Das Atelier ist Verkaufsraum und Herstellungsort zugleich und interessiert zeigen sich die Gäste nicht nur an der Lebendigkeit der Farben und Formen, sondern immer wieder auch an der Herstellungsweise des prachtvoll schillernden Schmucks. Freundlich und geduldig befriedigt die Goldschmiedemeisterin die Neugierde ihrer Besucher und erklärt etwa die Funktionsweise der langen, klotzigen Ziehbank, mit Hilfe derer Gold- und Silberdrähte geformt werden. Katrin Köhler braucht sie in unterschiedlichsten Stärken und Profilen. Für stärkere Drähte benutzt sie die Ziehbank, die fest montiert ist. Sie ist mit einer Handkurbel und Übersetzung ausgestattet und überträgt die Kraft optimal, um selbst dicke Drähte Stück für Stück dünner zu ziehen.

Ehrfurcht steht in den Gesichtern der Besucher, die in der Stadtkirche der Aussagekraft von Susanna Gieses Geschöpfen auf der Spur sind. „Ergriffen von der Zartheit ihrer Figuren“, ist etwa Christa Schultheiß. Ihre Frau Sonja bewertet die Galerienacht als „tolle Aktion“ und will sich alle Galeriestandorte ansehen und dabei die Kunst auf sich wirken lassen. Regelrecht berührt zeigen sich viele Betrachter vom Jesusbild, das „jeder schon 1000 Mal gesehen hat“. Giese aber, die der Kunstnacht zum ersten Mal ihre Kunst beisteuert, hat ihm die Einsamkeit genommen und ihm mit ihrem Werk „Mit Leid“ eine anrührende, ihn zärtlich umschließende Gestalt zur Seite gegeben. Gieses Kunstwerke berühren in der Tiefe und selbst die Wortwahl der Titel, etwa „Sieben Schöpfungstage des kleinen Glücks“ regt zum Nachdenken an. „Der Trost wird mich nie verlassen“ ist ein ebenfalls ausdrucksstarkes und zartes Objekt, versinnbildlicht die schützende Hülle und die Sehnsucht danach. „Lampedusa“ greift ein aktuell besonders heißes Eisen auf und lässt viele Betrachter lange nachdenklich blickend dastehen.

Interessierte Blicke auch im Alten Kino, wo Nihal und Thorsten Licker mit vielen Zuschauern ins Gespräch kamen, die auf der Leinwand miterleben konnten, was traumatisierte Flüchtlinge gestalten und erleben, wenn sie die Kursangebote der Psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene, Stuttgart besuchen. Auch Hanns-Martin Wagner ist mit seinem Themenfeld „Spiel, Kunst und Bewegung“, als Newcomer vertreten. Vor dem Marktbrunnen hatten Groß und Klein viel Spaß, während sie an dem von Wagner kreierten Objekt kräftig und schnell kurbelten. Das nämlich hat zum Ziel, dass die leichten roten Bälle nach oben geblasen werden, wo sie durch eine geschwungene Bahn wieder nach unten rollen. Wer das schafft, hat nicht nur die Anerkennung der Zuschauer sicher, sondern erntet fröhliches Gelächter von den Kindern.

Großen Zuspruch von den Besuchern erhielt Sybille Wohlfarth: die Diplom-Designerin hat mit ihren Aktgemälden vermutlich nicht nur den Zeitgeist getroffen, sondern auch das Kunstverständnis ihrer Gäste, die wetterbedingt in der Garage Vorlieb nehmen mussten, um den verschlungenen und anmutig gezeichneten Körpern, ihre Aufwartung zu machen. Dabei stach das zeichnerische Talent der Malerin und ihre Auseinandersetzung mit dem ausschließlich weiblichen Körper faszinierend ins Auge.