Das Schöffengericht folgte schließlich dem psychologischen Gutachten bei seiner Urteilsfindung. Foto: (dpa/Volker Hartmann)

Ein junger Mann ist vom Vorwurf der zweifachen Vergewaltigung freigesprochen worden.

Marbach - Wie zuverlässig ist unser Gehirn, wenn es sich an zurückliegende Ereignisse erinnern muss? Wann und warum verändern sich Erinnerungen, werden ausgeschmückt oder neu erschaffen? Diese elementaren Fragen der Psychologie liegen beinahe jeder Gerichtsverhandlung zugrunde und müssen für Angeklagte, Opfer oder Zeugen bewertet werden. Nicht selten geben Sachverständige den entscheidenden Hinweis, so auch im Fall einer zweifachen Vergewaltigung vor dem Schöffengericht in Marbach.

Bei einer Geburtstagsfeier Anfang 2017 in Marbach lernt eine 16-jährige Schülerin einen sechs Jahre älteren jungen Mann kennen. Sie sagt, sie fand ihn toll, wollte aber keine feste Beziehung. Er erzählt, man sei sich von Anfang an nahe gewesen, habe Zärtlichkeiten ausgetauscht, sei aber nicht intim geworden. Zwei Jahre später sitzen sich die beiden im Gerichtssaal des Amtsgerichts gegenüber, zwischen ihnen steht eine Anklage wegen zweifacher Vergewaltigung im Raum.

Ihre Erinnerung an den ersten Vorfall: Von Anfang an habe sie gemerkt, dass er mehr will, jedoch ausdrücklich gesagt, dies selbst nicht zu wollen. „Wir können doch sehen, was passiert“, soll der junge Mann gesagt haben, als die beiden sich bei ihr zuhause treffen. Es wird auf dem Bett gekuschelt und geküsst, bis er plötzlich und unerwartet den Geschlechtsverkehr doch vollzieht und nur lapidar meint, „jetzt ist es eh schon zu spät“ und verschwindet. Seine Erinnerung: Ganz normal habe man Zärtlichkeiten ausgetauscht, nichts weiter. Ein vertrautes Verhältnis mit viel Raum für Gespräche mit Sorgen und Nöten herrschte zwischen den beiden. „Ja, ich habe sie hängen lassen, weil ich mir öfters von ihr Geld geliehen und es nicht zurückgezahlt habe, das muss ich zugeben“, berichtet er den Prozessbeteiligten auch. Der Kontakt wurde seltener, bis man sich wieder traf und sie ihm von einem anderen erzählte, „mit dem etwas nicht Gutes passiert“ sei.

Bei dem Treffen im Winter 2017, das der Aussprache und Geldrückgabe dienen sollte und im Auto des Angeklagten stattfand, wurde dieser laut Anklage erneut ruckartig grob, obwohl sich die junge Frau wehrte. Für die Staatsanwaltschaft ein klarer Fall von vorsätzlicher Körperverletzung und Vergewaltigung. „Den ersten Vorfall habe ich aus meinem Gedächtnis gelöscht, mit dem anderen Freund kam das alles aber wieder hoch“, erklärte die inzwischen volljährige junge Frau leise weinend im Gerichtssaal.

Sie begann, sich selbst zu verletzen. Aus heutiger Sicht hat sie ihr Sporttrainer motiviert, Anzeige zu erstatten. Dem fiel nach eigenen Angaben als Zeuge auf, wie selten sie lacht und fröhlich ist, dass sie ihr vorhandenes Potenzial nicht abrufen kann. Er fühlte sich verantwortlich und hakte wieder und wieder nach, was denn los sei. Genau an dieser Stelle sieht die Gutachterin den ersten Stolperstein. „Die Rolle des Trainers ist problematisch, er hat bedrängend und mit inhaltlichen Vorgaben gefragt“, fasste die Psychologin Marianne Clauss von der Universität Tübingen ihre Untersuchungen zusammen. Dies könne zu verzerrenden und verfälschten Wahrnehmungen bei der jungen Frau geführt haben. „Nach den negativen sexuellen Erfahrungen mit dem anderen Mann fand eine nachträgliche Neubewertung der Ereignisse mit dem Angeklagten im Zimmer und später im Auto statt.“

Weil der Chatverlauf nach dem ersten Vorfall ohne Bruch weiterläuft und die Rückgabe des Geldes einen großen Raum einnimmt, reicht es nach Ansicht von Staatsanwaltschaft und Nebenklage hier nicht für eine Verurteilung. Im zweiten Vorfall sehen sie allerdings eindeutig eine Vergewaltigung, Verhalten und Aussagen bei Freundinnen machten deutlich, wie verstörend das Ereignis für die Frau gewesen sein muss. Für absurd halten beide auch die Idee, einen so schweren Vorwurf wie Vergewaltigung lediglich als Rache für Geld und Missachtung einzusetzen. Zumal über mehrere Vernehmungen bei der Polizei und vor Gericht. Mit einem „Freispruch im Zweifel für den Angeklagten“ kam das Schöffengericht allerdings nach einer längeren Beweisaufnahme zu einer anderen Bewertung und folgt im Kern dem psychologischen Gutachten.

Für die Richter hatten die beiden eine Beziehung, kurz kam ein anderer Mann, und am Ende des Jahres nahmen die beiden erneut Kontakt auf – unwahrscheinlich nach einer Vergewaltigung. Weitere Punkte waren die wenig differenzierten ersten Aussagen gegenüber Freundinnen sowie die Rolle des Sporttrainers.

Wichtig war der Vorsitzenden Richterin, Ursula Ziegler-Göller, jedoch zu erwähnen, dass „das Gericht der Zeugin kein bewusstes Lügen unterstellt. Aus ihrer Sicht ist dies so geschehen.“