Eine Drehung des Arms oder Umbiegen der Hände und Finger kann im Notfall schon ausreichend sein. Foto: KS-Images.de

Ein Selbstbehauptungskurs in einer S-Bahn soll Frauen zu einem größeren Sicherheitsgefühl verhelfen.

Marbach - Claudia Micko hat es sich in einer Vierer-Sitzgruppe bequem gemacht und sieht entspannt aus dem Fenster. Ein Mann beobachtet die junge Frau dabei, lässt sich auf den Nebensitz fallen und die Hände über ihren Oberschenkel wandern. Doch die Blondine springt sofort auf und setzt sich mit lauter und energischer Stimme zur Wehr: „Fassen Sie mich nicht an!“ Sie verlässt das Abteil und geht mit festem Schritt unter den Blicken der Mitreisenden in Richtung der Fahrerkabine. „Ihr müsst euch niemals eine unangenehme Situation gefallen lassen oder diese über euch ergehen lassen“, betont Micko. Sie ist Trainerin beim Verband für Gewaltprävention und Selbstschutz, leitet gemeinsam mit ihren Kollegen Holger Hug und Ronald Schwab sowie Vertretern der Deutschen Bahn und der Polizei einen Selbstbehauptungskurs unter realen Bedingungen – nämlich in einer S-Bahn.

Der Workshop am Bahnhof ist Teil eines Präventionstags, der von der Polizei Baden-Württemberg sowie der Stadt Stuttgart und den Verkehrsbetrieben ausgerichtet wird und sich rund um das Thema Zivilcourage und Sicherheit im ÖPNV dreht. „Zunächst habe ich gute Nachrichten“, begrüßte Kriminalhauptkommissarin Andrea Glück vom Referat für Prävention Ludwigsburg die rund 25 Frauen, die es sich zum Beginn des Workshops in der S-Bahn bequem gemacht hatten: „Wir leben in einem sehr sicheren Landkreis.“ Der Anteil der Sexualstraftaten an der Gesamtkriminalität liege bei 3 Prozent: „Die meisten Fälle passieren im Privaten.“ 438 Fälle wurden 2018 im Landkreis Ludwigsburg gemeldet, von diesen trugen sich mit 171 rund 40 Prozent im öffentlichen Raum zu. Und auch bei diesen Taten handele es sich sehr oft um Beziehungstaten. Die Wahrscheinlichkeit, in der Öffentlichkeit zum Zufallsopfer eines Übergriffs zu werden, sei niedrig, so Glück: „Dennoch sinkt das Sicherheitsgefühl bei Frauen.“

Eine Tatsache, die Markus Volzer von der DB Regio selbst kennt: „Meine Frau war früher zu 100 Prozent mit dem Auto unterwegs. Jetzt nimmt sie häufig die S-Bahn.“ Denn tatsächlich sei in den vergangenen Jahren vieles unternommen worden, um die Sicherheit in den Bahnen zu erhöhen. Das durfte eine der Teilnehmerinnen dann auch umgehend demonstrieren. Neben den Einstiegstüren befindet sich nämlich jeweils ein graues „Kästchen“ und Lautsprecher. Einmal gedrückt, blinkt eine Riege von LED-Lichtchen auf, die Anweisungen geben was zu tun ist: Warten, Sprechen…

Kurz darauf schallt die Stimme von Volzer, der sich in der Zwischenzeit auf den Weg in die Fahrerkabine gemacht hat, gut hörbar durch das Abteil: „Sie haben die Sprechanlage aktiviert. Brauchen Sie Hilfe?“ Entweder der Gesprächspartner antwortet nun oder ein anderer Fahrgast erklärt die Situationen – etwa wenn ein Jugendlicher aus Spaß beim Aussteigen die Anlage aktiviert hat. „Wenn keine Reaktion kommt, wird im nächsten Bahnhof angehalten und der Fahrer überprüft den entsprechenden Türbereich.“ Außerdem gibt es aktive Kameras, die den gesamten Fahrgastraum überwachen, betont Volzer: „Aber das Material wird nur 72 Stunden gespeichert, also wenden Sie sich bitte im Ernstfall schnell an die Bundespolizei – die ist für die S-Bahn zuständig.“

Oft sei aber genau eben das das Problem, weiß Polizistin Andrea Glück: „Viele Frauen denken, was ihnen passiert ist, sei nur eine Bagatelle.“ Seit einer Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 2016 gibt es jedoch neue Straftatbestände, wie etwa die Sexuelle Belästigung, die früher als Beleidigung gewertet worden ist: „Die sexuelle Selbstbestimmung ist aber ein weitaus höheres Gut als die Ehre.“ Zudem reicht es mittlerweile auch aus, wenn der Täter den Willen der Frau ignoriert: „Nein heißt Nein.“ Es ist nicht mehr notwendig, dass zuvor ein Widerstand überwunden werden muss. „Entsprechende Gestik oder Mimik reicht da aus – aber auch starke Trunkenheit oder Schlaf.“ In diesen Fällen könne nämlich prinzipiell schon gar keine Zustimmung gegeben werden. Natürlich sollte es aber erst gar nicht zu so einer Situation kommen, weshalb Andrea Glück zudem den Frauen noch ein paar Tipps mit auf den Weg gibt – der wichtigste: „Achten Sie auf Ihr Bauchgefühl!“ Jeder darf sich jederzeit umsetzen und sich mit Menschen umgeben, die sympathisch wirken. Der beste Platz? „Nahe am Ausgang und auf der Gangseite?“, vermutet eine Teilnehmerin ganz richtig. Eine selbstbewusste Haltung sei ebenfalls hilfreich und zu wissen, was sie im Notfall tun können.

Der Präventionskurs setzte an eben diesem Punkt an. Worin sich Polizei und der Verband für Gewaltprävention einig waren: keine Waffen. „Ihr Puls ist auf 190 und sie sind voller Angst und Adrenalin gepumpt“, begründete Andrea Glück dies: „Der Einsatz von Waffen geht häufig schief. Im schlimmsten Fall entreißt der Angreifer diese und richtet sie gegen Sie.“

Wichtiger sei es, ein Gefühl zu entwickeln, sich im Notfall wehren zu können, so Präventionstrainer Ronald Schwab: „Da gibt es kaum Unterschiede zwischen Drinnen und Draußen.“ Zweifelnde Blicke bei so mancher Teilnehmerin. Die S-Bahn ist schließlich ein beengter Raum, spontan aussteigen geht nicht. „Das können Sie zum Vorteil nutzen“, erklärt Schwab und demonstriert dies sogleich mit seinem Kollegen Holger Hug. Dafür ist es auch nicht notwendig, viel Kraft oder Gewalt aufzuwenden. Als Hug ihm von hinten an die Brust fassen will, fasst Schwab schnell dessen Hand, dreht diese und zieht sie weiter in Richtung Boden. Hug geht in die Knie. Aber schafft das auch jemand mit nur 1,65 Meter? Das dürfen die Frauen gleich ausprobieren. Auch Finger lassen sich schmerzhaft biegen. „Wenn sie unter Stress stehen, entwickeln sie außerdem ungeahnte Kraft“, so Holger Hug. Der gesamte Körper darf eingesetzt werden.

Wie das aussehen kann, demonstriert ein Mädchen prompt. Sie schafft es, den Arm von Holger Hug, der sie locker um mehrere Köpfe überragt, auf Abstand zu halten und ihn in die Knie zu bringen – auch wenn sie am Ende selbst auf dem Boden sitzt. Wie das geht? Als er den Arm nach ihr ausstreckt, drückt sie diesen mit aller Kraft schnell an eine Haltestange – die Stange schafft Abstand und schmerzt: „Nutzen Sie den Überraschungsmoment!“ Soweit muss es aber nicht erst kommen, oft hilft alleine schon Aufmerksamkeit.

Hug stellt sich zur Demonstration nun dicht hinter eine brünette Frau, zu nah um sich noch wohlzufühlen. Was tun? Einfach einen Schritt zurückgehen und diesem mit Schmackes auf die Füße treten oder unverwandt ansprechen, wieso er denn so nahekommt. Das sollen auch die Umstehenden gerne mitbekommen – denn zu viel Aufmerksamkeit will wohl jeder Täter vermeiden: „Machen Sie besser vorher Theater, als dass sie schließlich wirklich in Bedrängnis kommen.“ Eine Handtasche kann als Puffer zwischen den Sitzplätzen benutzt werden, um einen Nachbarn auf Abstand zu halten. Jemand lässt sie nicht vom Sitz aufstehen? Zielstrebig die Beine heben und über den Sitz klettern oder über die Beine steigen – notfalls mit einem Arm sich Platz verschaffen, aber nicht rechtfertigen. Die Einstellung müsse lauten: „Nicht mit mir!“

Das ist auch möglich, wenn ich nicht selbst das Opfer bin, sondern nur sehe, wie eine andere Frau bedrängt wird, indem ich dies laut anspreche und zeige: Ich bin da. „Und was wirklich jeder tun kann, ist, die Polizei zu rufen und danach als Zeuge zur Verfügung zu stehen.“ Daran scheitere es nämlich oft, wenn es tatsächlich zum Strafverfahren kommt. Allen Tipps und Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz gibt es aber eine Maxime, so Andrea Glück: „Das Opfer trägt niemals irgendeine Schuld.“