Auf Geheiß des Reichsvogts muss Wilhelm Tell einen Apfel vom Kopf seines eigenen Kindes schießen. Foto: Dominik Thewes

Das Theater unter der Dauseck inszeniert beim Alten Marbacher Kraftwerk „Tell“ nach Friedrich Schiller.

Marbach - Schon bei der ersten Besichtigung des Alten Kraftwerks in Marbach habe sie das Verlangen verspürt, an dieser außergewöhnlichen Stätte Theater zu spielen, berichtet Tell-Regisseurin Christine Gnann. Bei der ausverkauften Premiere am Freitagabend ist dieser Traum für sie und die 30 Akteure des Theaters unter der Dauseck Wirklichkeit geworden. Zwischen Maschinenhallen, Kühlketten und dem Neckarufer haben die Darsteller an acht Stationen „Tell – Ein Theaterspaziergang nach Friedrich Schiller“ aufgeführt. „Wir hatten zuerst die Spielstätte, dann kam uns die Idee für dieses Stück“, berichtet Gnann. Das Kraftwerk, „das ja förmlich von der Natur drumherum gefressen werden will“, so Gnann, hat sich als die perfekte Heimat der „Bergler, Weltler und Seeler“ erwiesen. Ohne zu viel vorweg nehmen zu wollen: An mancher Stelle im Stück geht es so hoch hinaus, dass dafür ein spezielles Sicherheitstraining nötig war. Von der Idee, die Landleute wie im Originaltext in Schwyz, Uri und Unterwalden zu verorten, hat das Ensemble Abstand genommen. „Wir sind ja hier nicht in der Schweiz“, so Gnann.

Das Stück selbst freilich ist hier wie dort gut aufgehoben. Der Stoff aus dem Jahre 1804 hat von seiner Aktualität wenig eingebüßt. Die Frage, was den Privatmenschen dazu treibt, politisch zu agieren, steht auch heute noch im Raum. Statt des Adels erheben inzwischen Parteien – vor allem welche am rechten Flügel – absolutistische Führungsansprüche in ihren Programmen. Ihnen ruft die mit neun Jahren jüngste Darstellerin Paula Braden im Schlusswort entgegen: „Lasst uns nun dafür kämpfen, die Welt zu befreien – die nationalen Schranken niederzureißen – die Gier, den Hass und die Intoleranz beiseite zu werfen.“ Damit spricht sie übrigens den einzigen Text während des gesamten Abends, der nicht der Feder Friedrich Schillers entspringt. Charlie Chaplin lässt damit seinen „Der große Diktator“ enden.

Wie sich die Theatergruppe um Regisseurin Christine Gnann auf dem Gelände des Alten Kraftwerks bewegt, ist phänomenal anzusehen. Die ehemals aus der Not heraus geborene Idee, Stücke als Spaziergang zu inszenieren – dem Theater unter der Dauseck fehlte es an einer Bühne, erweist sich im aktuellen Fall als absoluter Glücksgriff. Wie nah Hochtechnologie und Natur am Neckar zusammenliegen, entgeht für gewöhnlich Spaziergängern und Radfahrern. Dort, wo Tell seinen Widersachern das Leben schwer macht, hat für gewöhnlich niemand etwas zu suchen. Allein schon darum lohnt sich der Besuch allemal.

Vielmehr aber noch, wenn man sieht, mit welchem Verve die Darsteller ans Werk gehen. Sie sind zwischen neun und 76 Jahre alt, mancher ist ein Theaterneuling. „Ich wollte, dass sie Schiller sprechen“, erklärt Gnann auch ihr pädagogisches Ansinnen. Dass sie damit eine beachtliche Leistung aus dem Amateurensemble herausholt, zeigt nicht zuletzt, wie sehr das Herz der freien Regisseurin für das Theater schlägt.