Applaus für die Musik (vorne von links): Sandra Richter, Theresia Bauer, Sigrid Bias-Engels und Peter-André Alt. Foto: Werner Kuhnle

Die Professorin Sandra Richter ist in ihr Amt als Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach eingeführt worden.

Marbach - Bereits seit sechs Wochen arbeitet Sandra Richter auf der Schillerhöhe – offiziell eingeführt worden ist die neue Direktorin des Deutschen Literaturarchivs (DLA) in Marbach am Donnerstagabend. Ein prall gefüllter Kilian-Steiner-Saal zeugte vom großen Interesse. Unter den etwa 400  geladenen Gästen aus Wissenschaft, Kultur und Politik waren unter anderem der Ex-Ministerpräsident Erwin Teufel und der Ludwigsburger OB Werner Spec neben dem Marbacher Bürgermeister Jan Trost anzutreffen.

Mit der Professorin bricht in der Forschungseinrichtung eine neue Ära an. Die 45-Jährige sei nicht nur die erste Frau, sondern auch die erste Germanistin auf dem Chefsessel der Marbacher Institute, erklärte Peter-André Alt, der Präsident der Deutschen Schillergesellschaft. Er bescheinigte der Wissenschaftlerin eine „exzellente akademische Karriere“. Unter anderem habe sie einen Ruf an die renommierte Universität Cambridge bekommen – „und abgelehnt“. Die Preisträgerin Sandra Richter stehe für eine deutsche Literaturwissenschaft, die „in globalen Spiegelungen und Resonanzen“ denke: „Marbach wird noch internationaler und globaler.“

Sandra Richter sei eine Wissenschaftlerin, die Verantwortung, übernehme, sich in politischen Fragen klar zu positionieren, betonte Theresia Bauer, grüne Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst im Kabinett Winfried Kretschmanns. Das Literaturarchiv bewahre Texte als Zeugnisse der Vergangenheit und trage mit dazu bei, dass Herausforderungen wie der Klimawandel, die Globalisierung und Fragen um die künstliche Intelligenz nicht nur den Naturwissenschaften überlassen blieben. Es gehe um die öffentliche Urteilskraft, „wir brauchen die Geisteswissenschaften mehr denn je“. Infrage gestellt sieht Bauer die Urteilskraft durch schnell verbreitete Falschnachrichten und politisch oder religiös motivierten Terrorismus. Sie sei zuversichtlich, dass Sandra Richter die gesellschaftliche Relevanz der Literatur und deren „tiefere Wahrheit“ entfalte – so werde im DLA in diesem Jahr die koloniale Vergangenheit Deutschlands aufgearbeitet. Richter reise mit, wenn eine Delegation in Namibia Bibel und Peitsche des Nama-Anführers Hendrik Witbooi zurückgebe. Beide kulturell wertvollen Gegenstände seien 1893 von brutal agierenden deutschen Truppen entwendet worden.

Forschern in aller Welt barrierefreie digitale Zugänge zu Originalquellen zu ermöglichen – das sei aus Sicht der Bundesregierung eine wichtige Zukunftsaufgabe des Literaturarchivs, so Sigrid Bias-Engels vom Ministerium für Kultur und Medien. „Marbach ist alles andere als ein elitärer Elfenbeinturm“, sagte sie und erntete Applaus, als sie das bürgerschaftliche Engagement in der Stadt hervorhob.

Menschen für Literatur und deren Erforschung zu begeistern sei eine große Stärke Sandra Richters, sagte Wolfram Ressel, Rektor der Universität Stuttgart. Die Ernennung der Kollegin, die an der Uni in ihrem Fachgebiet Neuere Deutsche Literatur reduziert weiterunterrichten werde, sei für das DLA nicht nur „folgerichtig“, sondern auch „ein großer Glücksfall“. Als Zukunftsprojekt würdigte Ressel das mit zwei Millionen Euro geförderte Projekt „Born-digitals“ (wir berichteten), in dem das DLA gemeinsam mit der Universität Stuttgart Materialien archivieren wird, die digital, also nicht handschriftlich, entstanden sind.

Aus der Antrittsrede der DLA-Direktorin Sandra Richter

Das Thema: Jazzig leitete das Andreas Reichel Trio über, dann hatte Sandra Richter selbst das Wort. Ihr Thema: „Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv.“ Die neue DLA-Chefin würdigte die Aufklärung und den mündigen Bürger als deren Folge. Doch heute garantiere eine Vielzahl von Stimmen kein vernünftiges Ergebnis mehr. Halbstarke Urteilskräfte regierten laut und polemisch scharf in gegenwärtigen Öffentlichkeiten. Neue Medien würden mit ihrer Beschleunigung zu plakativen Äußerungen einladen.

Urteilskraft: Als Beispiel für eine fundierte Auseinandersetzung mit Quellen nannte Sandra Richter den französischen Protestanten Pierre Bayle, der sich 1697 über den Religionsstifter Mohammed differenziert geäußert habe. Quellenkritik ermögliche nach Bayle, zum „diskussionsfreudigen Skeptiker“ zu werden. Das Urteilsvermögen sei aber auch subjektiv, schränkte Richter ein. Das Schöne im ästhetischen Schutzraum der Kunst gelte hingegen laut Schiller als Schule der Urteilskraft, es verbinde Menschen.

Rolle des Literaturarchivs: Das Schöne und dessen Urteilskraft werden im Literaturarchiv kultiviert, so Richter. Ein Archiv sammele nicht nur, es urteile auch über Autoren und Werke. Es forsche, berücksichtige ästhetische Kriterien sowie zeitgeschichtliche Bedeutung – und kooperiere. Es müsse sich im Urteilen selbst reflektieren. Vernetzungen, heute auch digital, ermöglichten eine „heilignüchterne Begeisterung“ aus forschender Neugier. Literaturarchive seien nicht Luxustempel, sondern unverzichtbare Kulturorte.