Bundesweit verteilen Querdenker Flugblätter. Foto: Roberto Bulgrin/bulgrin

Die Stadt und der Gemeinderat wollen mit einem Brief an die Bürger auf die Kampagne der Corona-Kritiker reagieren. Außerdem soll um Solidarität für die bisherigen Maßnahmen geworben werden.

Marbach - Die bundesweite Flyer-Aktion der Querdenken-Bewegung ist auch in der Schillerstadt angekommen. In Teilen von Marbach wurden Flugblätter in Briefkästen verteilt, in denen unter anderem Eltern aufgefordert werden, gegebenenfalls juristisch gegen die „sinnlose und krankmachende“ Maskenpflicht ihrer Kinder vorzugehen. Im Sinne des Presserechts verantwortlich für die Flyer ist der Sinsheimer HNO-Arzt Bodo Schiffmann, einer der Wortführer der Querdenken-Bewegung. Das Verteilen des Materials im großen Stil hatte Schiffmann im Rahmen seiner CoronaInfo-Tour in Sinsheim Anfang des Monats angekündigt. Man sei nur vier Wochen nach Gründung der Gruppe der Freiheitsboten in der Lage, „mindestens jeden vierten Briefkasten in Deutschland zu bestücken“, rief er seinen Fans zu. Lagerhallen, Logistik, Verteilerzentren seien vorhanden. Koordiniert wird die bundesweite Aktion, also das Verteilen der Materialien an die Ortsgruppen, offenbar von einem Unternehmen in Mönchengladbach.

Über die Homepage der Freiheitsboten können interessierte Querdenken-Anhänger Kontakt zu Ortsgruppen aufnehmen. Mehr als 500 gibt es laut der Homepage in Deutschland, Österreich und der Schweiz inzwischen. Allein 70 sind für Baden-Württemberg aufgeführt. Darunter Ludwigsburg, Bietigheim-Bissingen und Leonberg. Die Marbacher Gruppe taucht in der Liste aktuell nicht auf.

Wer hat also die Flugblätter in Marbach verteilt? Andreas Roll, der Kopf der Marbacher Gruppe, erklärt, ihm sei eine systematische Verteilung nicht bekannt. „Sicherlich gibt es den einen oder anderen Austräger.“ Er selbst verteile hin und wieder verschiedene Informationsangebote etwa im Bekanntenkreis. „Und ich bin sicherlich nicht der Einzige im Landkreis.“

Zwei Flyer sind im Briefkasten des Marbacher Grünen-Rats Sebastian Engelmann gelandet, wie er am Donnerstag im Verwaltungsausschuss mit sichtbarem und hörbarem Missfallen berichtete. Er halte eine kritische Auseinandersetzung mit den Corona-Maßnahmen für wichtig und richtig, betonte er. „Aber immer auf der Basis, dass Corona eine hochansteckende und gefährliche Krankheit ist.“ Auf den Flugblättern würden hingegen kühne Behauptungen aufgestellt. Darüber hinaus spreche Schiffmann bei seinen Auftritten von einer faschistoiden Gesundheitsdiktatur und erkläre, dass er kein Problem mit einem Militärputsch habe, so Engelmann. In der Tat: In einem Youtube-Video erklärt der Sinsheimer, die größte Armee in Deutschland sei nicht die Bundeswehr, sondern die Polizei. Er vertraue, dass sich auch dort intern etwas tue und es auch dort Wahrheitssuchende gebe. Mittlerweile wünsche er sich, so Schiffmann in dem Video, jemand würde „zwischendurch die Regierungsgeschäfte übernehmen, und da wär es mir egal, ob er Sterne auf der Schulter hat oder nicht, aber es wird hoffentlich auch bei der Bundeswehr Menschen geben, die klug genug sind, über solche Sachen nachzudenken“. Seit Wochen behauptet Schiffmann zudem, Kinder seien durch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) gestorben. Belege bleibt er schuldig.

Der Kinderschutzbund verurteilt das Agieren des Querdenken-Wortführers. Bei den Berichten über Kinder, die durch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes gestorben sind, handele es sich um Fake News, betont Pressesprecherin Juliane Wlodarczak. „Die Kinder- und Jugendärzte haben sich in mannigfaltigen Stellungnahmen zur Thematik geäußert, dem haben wir nichts hinzuzufügen. Wir sind erschüttert darüber, dass es in unserem Land eine Gruppe von Menschen gibt, die den Tod von Kindern für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisiert. Sie haben vieles, aber ganz sicher nicht das Wohl der Kinder im Sinn. Wenn die Kinderrechte in der Pandemie-Bekämpfung nicht angemessen berücksichtigt wurden, hat der Kinderschutzbund das immer kritisiert. Wir werden das auch weiterhin tun. Auch deshalb rufen wir dazu auf, sich bei allem Ärger über manche Maßnahme nicht vor den Karren von Verschwörungsideologen spannen zu lassen.“

Was die auf den Flyern angeführte fehlende Ansteckungsgefahr durch Kinder angeht, räumt der Marbacher Mediziner, David Strodtbeck, ein, dass es fraglich ist, ob Kinder tatsächlich Erwachsene in großem Maße anstecken können. „Was ich aber nicht verstehe, ist die Argumentation, dass das Tragen von Masken den Kindern schaden würde. Hier gibt es keinerlei Evidenz oder Nachweis. Das wird meiner Meinung nach in den Flyern völlig falsch wiedergegeben. Ich persönlich wüsste von keinem Fall, bei dem ein gesundes Kind, das eine Maske trägt, hiervon Schaden nehmen würde“, so Strodtbeck, der in der Schillerstadt die Corona-Schwerpunktpraxis leitet. „Zu diskutieren wäre es eventuell bei Asthma-Kindern, die medikamentös nicht gut eingestellt sind oder trotz der medikamentösen Therapie dauerhaft Luftnot haben. Hier ist, denke ich, auch eine Attest-Ausstellung zur Befreiung der Maske gut zu vertreten. Ansonsten würde mir kein Grund einfallen, der gegen die Benutzung von Masken auch im Unterricht spricht.“

Das Landratsamt Ludwigsburg weist die in den Flyern vertretene Meinung entschieden zurück, erklärt der Pressesprecher der Behörde, Andreas Fritz. Rückmeldungen von Eltern, dass ihre Kinder wegen der Maskenpflicht in der Schule Schwindel und Kopfweh bekommen, erhalte er nur aus dem Kreis, die dem „Flyerverfasser“ angehören, erklärt der Leiter des Gesundheitsamtes, Thomas Schönauer. Dass der Anstieg der positiven Fälle nur entsteht, weil mehr getestet wird, wie es in dem Flyer heißt, könnte man mit einiger Berechtigung postulieren, so Schönauer. „Man könnte es auch überprüfen, wenn man die Zahl der positiven Abstriche ins Verhältnis zur Gesamtzahl setzt. Und das jetzt und in der ersten Welle. Da wir aber die Gesamtzahl nicht kennen, die Tests sind nicht meldepflichtig, können wir dies nicht.“

Engelmanns Antrag, Verwaltung und Gemeinderat sollten in einem Brief an die Bürger um Solidarität bitten und für das Einhalten der Hygiene und Abstandsregeln werben, wurde am Donnerstag von allen Fraktionen und von Bürgermeister Jan Trost befürwortet. „Das Virus ist da und gefährlich – auch wenn die Querdenker das anders sehen“, erklärte der Rathauschef. Dr. Michael Herzog von den Freien Wählern fand die Idee eines Schreibens an die Bevölkerung ebenfalls gut, warnte allerdings vor zu großen Hoffnungen. „Es gibt Unbelehrbare, mit denen wir leben müssen und die verantwortungslos sich selbst und anderen gegenüber handeln.“ Doch die sind, betonte Engelmann, in der Minderheit. „Querdenker sind eine kleine, aber laute Minderheit. Die Mehrheit der Menschen – auch hier bei uns in Marbach – ist vernünftig.“

Strafrechtlich sind die Flyer laut dem Sprecher des Polizeipräsidiums Ludwigsburg, Peter Widenhorn, nicht relevant. „Zu den Aussagen kann sich jeder seine eigene Meinung bilden. Es wird auch nicht zu strafbarem Verhalten aufgerufen.“

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