Die Kickers Marbach haben trotz sportlicher Rückschläge nicht den Spaß am Fußball verloren. Foto: privat

16 Spielzeiten absolvieren die Fußballer des SV Kickers Marbach – nur zweimal wird die Mannschaft nicht Letzter der untersten Liga. Stattdessen hagelt es Niederlagen. In diesem Jahr wäre der Verein 50 Jahre geworden.

Marbach - Der Blick auf die trockenen Zahlen aus der Zeit des SV Kickers Marbach lässt erahnen: Es war ein besonderer Fußballverein, der zwischen 1972 und 1988 am hiesigen Spielbetrieb teilnahm. Einer, den es in der Geschichte des Bezirks Enz/Murr aus sportlicher Sicht kein zweites Mal gab. In 16 Spielzeiten traten die Kickers in der untersten Kreisliga an – nur zweimal schafften sie es, die Saison nicht auf dem letzten Platz zu beenden. Haarscharf. Die Bilanz in all den Jahren: 19 Siege, 18 Remis, 381 Niederlagen. Bei 260:2518 Toren. Macht einen Schnitt pro Partie von 0,6:6,0 Treffern und 0,2 geholten Punkten.

In diesem Jahr am 1. Juni wäre der Verein 50 Jahre alt geworden. Wäre. Denn seit seiner Auflösung 1988 ist der SV Kickers Marbach von der Bildfläche verschwunden. Was bleibt, sind Erinnerungen von Zeitzeugen, Dokumente, manche Anekdote. Und die Frage: Wie schaffte man es aufgrund der meist herben Niederlagen überhaupt, die Mannschaft so lange für den Spielbetrieb zu motivieren?

Die Gründung
Los geht’s Anfang der 1970er Jahre. Jugendliche aus Marbach kicken in ihrer Freizeit gegeneinander, Wohngebiet gegen Wohngebiet. Bis die Idee entsteht, neben dem FC einen zweiten Fußballverein zu gründen. Gesagt getan. Die benötigten Mitglieder sind schnell gefunden. Ebenso der Name: Er rührt daher, dass Gründungsmitglied Hermann Wieland Fan der Offenbacher Kickers ist. Was fehlt, sind aber ein Sportplatz (der an der Poppenweilerstraße gilt als überbelegt) und Umkleiden – ein paar Mal weicht das Team fürs Training nach Winzerhausen aus, auch neben dem Bootshaus wird gekickt. Als dann auf dem Ascheplatz (heute Hermann-Mayer-Sportplatz) gespielt werden darf, bleibt das Problem der Umkleiden. Der FC untersagt die Mitnutzung. Also geht’s für die Kickers-Spieler fürs Umziehen zu Hermann Wieland nach Hause, für den Gegner zu dessen Großmutter.

Für die Teilnahme an der Saison 1971/72 reicht’s nicht mehr. Die Zeit wird mit Testspielen überbrückt. Das erste endet mit 5:7 gegen die SpVgg Zaisersweiher verheißungsvoll. Doch das zweite lässt alle Euphorie schnell abebben: Gegen den SV Riet aus der C-Klasse (Kreisliga B), der untersten Liga, setzt es ein 1:22. Immerhin der TGV Geisingen II wird 4:1 besiegt.

Die Anfangsjahre
16 Teams sind in der C-Klasse vereint, 20 Kickers-Aktive stehen für die Mammut-Saison parat. Und: Bald darf dank der Unterstützung von Bürgermeister Heinz Georg Keppler die Umkleide der Schulsporthalle genutzt werden. Sportlich bleibt’s mager, auch wenn die Kickers sich im Pokal beim SV Poppenweiler mit 3:5 wacker schlagen. Zum Ligaauftakt kassieren sie ein 0:7 gegen den SGV Hochdorf. Erst kurz vor Weihnachten gelingt dank eines Doppelpacks von Willi Fritsch mit 2:1 gegen den TSV Ludwigsburg der erste Sieg. Später wird berichtet, der TSV-Trainer sei daraufhin zurückgetreten und die gegnerischen Spieler hätten allesamt ihre Kickschuhe verbrannt. „Ganz so schlimm war es aber nicht“, sagt Hermann Wieland heute in der Rückschau schmunzelnd. Ein zweiter Sieg gelingt mit 2:1 beim TGV Geisingen. Ansonsten stehen zwei Remis und 26 Niederlagen bei 20:182 Toren. Kurios: Nach der heutigen Drei-Punkte-Regelung hätten die Kickers den vorletzten Platz vor Geisingen erreicht. So aber sind sie wegen des Torverhältnisses Letzter.

Fünf Jahre lang ohne einen Sieg
Nach der ersten Saison kommt es bei den Kickers zum Streit. Acht Spieler verlassen den Verein. Die Zukunft steht auf der Kippe, doch es wird Ersatz gefunden. Stets eine Elf zusammenzubekommen, gestaltet sich aber über Jahre schwierig. Viele hören nach wenigen Partien auf, ein Training kommt selten zustande. Der Trainer hört deshalb auf. Hermann Wieland muss stets die Spieler für die Partien zusammentrommeln, wofür er samstagabends auch die Stammkneipen abläuft. „Ach, suchsch’ wieder Spieler“, heißt es, sobald er den Raum betritt. Und findet Wieland neue Spieler, fährt er schon mal in der Mittagspause von seiner Arbeitsstelle in Steinheim zum wfv nach Stuttgart, um den Spielerpass zu organisieren. An den Spieltagen kommen zudem manche Spieler erst wenige Minuten vor dem Anpfiff – bis dahin wird gezittert, ob man überhaupt eine Elf stellen kann. Was die Personalnot erschwert: Die Kickers kassieren reihenweise Platzverweise,      zwischen 1976 und 1979 allein fast 40. Dazu kommen zwei Spielabbrüche wegen Schiedsrichter-Attacken. Vom Verband kommt daher die klare Ansage: Bessert euch, oder der Verein wird nicht mehr für den Spielbetrieb zugelassen.

Es verwundert also kaum, dass der Erfolg ausbleibt. In den Spielzeiten 1973/74 und 1974/75 gelingt jeweils nur ein Sieg, 1975/76 reicht es für zwei Unentschieden. In den darauffolgenden vier Saisons bleiben die Kickers sogar ohne Punkt. Erst 1980/81 gewinnen sie wieder ein Spiel – die anderen 31 gehen verloren. Zum Zehnjährigen steht folgende Bilanz: 5 Siege, 6 Unentschieden, 213 Niederlagen bei 125:1621 Toren. Acht Jahre lang bleibt der Verein zudem in keiner einzigen Partie ohne Gegentor – ehe die Serie gegen den FSV Oßweil endet. Mit einem 0:0.

Der Weltmeisterbesuch
Das Zehnjährige wird an drei Tagen und mit dem selbst gebauten, 800 Personen fassenden Festzelt groß gefeiert. Der Vorsitzende Hermann Wieland fragte vorab sämtliche Bundesligisten für ein Freundschaftsspiel an und macht in den „Bettelbriefen“ keinen Hehl aus der sportlichen Misere – aber durch Kameradschaft habe man „trotz der vielen Niederlagen Sonntag für Sonntag die Freude am Fußballspiel“ behalten. Während er unter anderem von Bayern-Manager Uli Hoeneß aus Termingründen eine Absage erhält, beißen Nürnberg und Frankfurt an. Die Eintracht ist etwas schneller und kommt mit ihrer Traditionself – gespickt mit Ex-Nationalspielern und Weltmeister Jürgen Grabowski. Mit dem hatte Wieland eigens telefoniert, um sich zu vergewissern, dass er kommt. Frankfurt gewinnt vor fast 1000 Zuschauern im recht neuen Stadion am Leiselstein 8:1. Danach schreibt Grabowski Autogramme, gefeiert wird bis in die Nacht. Am Vorabend hatte bereits die Traditionself des VfB Stuttgart mit Gerhard Mayer-Vorfelder bei den Kickers gastiert – sie gewann sogar 22:4. Zudem gab es ein Frauenfußball-Einlagespiel, was zusätzliche Zuschauer anlockte.

Zum Fünfjährigen war ebenfalls gefestelt worden. Zu Gast war der Spielführer der Amateur-Nationalelf, Egon Schmitt vom 1. FC Saarbrücken. Das Jubiläumsturnier pfiff der frühere WM-Schiedsrichter Rudolf Kreitlein, der 1966 an der Erfindung der gelben und roten Karte mitwirkte. Für seinen Einsatz erhielt er 30 Flaschen Marbacher Rotwein. 1984 ist als weiterer Höhepunkt die Traditionself von Bayern München zu Gast beim Kickers-Sportfest. Sie tritt mit Spielern aus den ersten Bundesliga-Jahren und früheren Akteuren der zweiten Mannschaft an.

Die „Hoch-Zeit“
Zwischen 1981 und 1984 holen die Kickers nur drei Remis. Bedeutet: Von 1975 bis 1984 gelingt nur ein Sieg! Ab 1984 erkennen die Zuschauer ihre Kickers dann kaum mehr wieder, denn nach dem Sportfest kommen gute Spieler hinzu: 1984/85 reicht es für einen Sieg und drei Remis. 1985/86 holen die Marbacher gar sieben Siege und zwei Remis – und werden erstmals Drittletzter! In den weiteren beiden Saisons folgen je drei Siege, was 1987/88 für den vorletzten Rang reicht. Mit einem Mittelfeld-Platz hatte man aber höhere Ziele: „Kickers wollen Verlierer-Image ablegen“.

Ein Grund für die Steigerung ist, dass die Elf nicht mehr aus „Laufkundschaft“ besteht, sondern über Jahre mit wenigen Veränderungen zusammenbleibt. Auch die Spieler, die in den 70ern mit Platzverweisen Probleme bereiteten, sind längst nicht mehr da – inzwischen stellen die Kickers dagegen selbst zwei langjährig aktive Schiris. Dazu kommen Spieler aus dem Jugendteam, das ab der B/C-Jugend bestanden hatte. Auch Gastarbeiter kicken mit, weshalb später von einer „kleinen Weltelf“ die Rede ist.

Das Pech bleibt dem Verein aber treu: Gegen den FC Marbach II halten die Kickers einmal lange ein 0:0, ehe der FC – besetzt auch mit Spielern aus der ersten Elf – in der Nachspielzeit zum Sieg trifft. Und gegen Hessigheim führt man gar 4:1, ehe es beim Abpfiff 4:4 steht – woraufhin der Trainer geht. Immerhin: Gegen den späteren Aufsteiger Pflugfelden schlägt man sich mit 1:2 tapfer. Und Geisingen wird ein zweites Mal besiegt, 3:2 nach 0:2-Rückstand. Die MZ schreibt: „Am Donnerstag um 19.42 Uhr war die Sensation perfekt. Eine mit großer Moral spielende Kickersmannschaft schlug nach einem dramatischen Spiel die Elf vom TGV Geisingen hochverdient und schaffte den ersten Punktspielsieg nach fünf Jahren.“

Das Rundherum
Die Kameradschaft steht stets im Vordergrund. Sie wird auch im Vereinsheim, der Glocke, ausgelebt. Die Gaststätte ist Sponsor, was den Verein am Leben hält. Wichtige Einnahmen werden auch übers Straßenfest generiert. Jahr für Jahr an Pfingsten unternimmt die Kickers-Familie Ausflüge mit dem Omnibus, ob nach Österreich, an den Bodensee, in den Schwarzwald oder in den Bayerischen Wald. Einmal geht’s an die Mosel, wo man für ein Freundschaftsspiel mit dem FC Marbach rechnet. Gegen eine eigens zusammengestellte Mosel-Auswahl verkaufen sich die Kickers vor 300 Zuschauern aber teuer, verlieren nur 0:5. Den Bau des Seniorenheims in Marbach unterstützt der Verein mit einer Spende. Das Geld hatte man dank eines Balles mit Unterschriften von Bundesliga-Spielern eingenommen.

Durch ihre hohen Niederlagen ziehen die Kickers bei den Heimspielen lange um die 100 Zuschauer an. Die Leute wollen sehen, „wie’s Feuer gibt“. Gerade die Derbys gegen Erdmannhausen, Affalterbach, Benningen und den FC Marbach II sind gefragt. Montags geht’s beim Blick in die Zeitung erst mal darum, wie hoch die Kickers diesmal verloren haben. Ausgerechnet als es bergauf geht, sinken die Zuschauerzahlen aber. Zum einen fallen Niederlagen unspektakulärer aus, zum anderen zieht der FC mit seinen erfolgreichen Oberliga-Jahren das Interesse auf sich. Der Pokalsieg
Ein einziges Mal belegen die Kickers Platz eins – das aber bezeichnenderweise nicht beim Kicken, sondern beim Preisschießen. In Rielingshausen treten 20 Vereine an. Und die Kickers holen tatsächlich den Sieg – ausgerechnet vor dem FC Marbach, der den Wanderpokal in den beiden Vorjahren gewonnen hatte. Die Kickers verhindern damit, dass der große Pokal dauerhaft in der FC-Vitrine stehen darf.

Der Dauerbrenner
Hermann Wieland ist nicht nur Gründungsmitglied und steht im ersten Spiel auf dem Rasen – er ist auch 16 Jahre später im letzten Spiel vor der Auflösung auf dem Feld dabei. Bis dahin war er acht Jahre Vorsitzender, lange Spielertrainer, Kapitän, Kassier, Jugendtrainer und „Mannschafts-Zusammentrommler“. Sprich: der Mann für alle Fälle. 1984 wird er beim Sportfest für 600 Kickers-Spiele geehrt.

Die Auflösung
In der letzten Saison gibt’s Krach mit dem FC, weil die A-Jugend des Stadtrivalen samt Trainer zu den Kickers wechselt. Doch von den jungen Spielern bleiben wenige, da sich die Interessen verschieben. Nach dem offiziellen Teil der Spielerversammlungen in der Glocke verabschieden sich die Jungen meist gleich, ebenso nach dem Training – die Kameradschaft schwindet. Fitnessstudios kommen in Mode, manche Kicker wollen sogar Geld. Ein Team zusammenzubekommen, gestaltet sich noch schwieriger, als es das sowieso war. Und: Den Vorsitzenden Hermann Wieland zieht’s ins Hohenlohische.

Bei der Versammlung 1988, bei der die Auflösung beschlossen wird, versuchen die Mitglieder noch, ihn vom Verbleib zu überzeugen. Doch sein Wechsel zu einem neuen Verein steht fest, und ein anderer Vorsitzender findet sich nicht. Das Aus des SV Kickers Marbach ist besiegelt. Immerhin: Sein letztes Spiel gegen den SKV Erligheim hatte er mit 2:0 gewonnen.