Die verletzte Chiara liegt in stabiler Seitenlage, kurz nach ihrer Rettung aus dem Wasser. Die Retter verschaffen sich einen Überblick über die Lage. Foto: DLRG/Michael Meyer

Ingo Nicolay ist inzwischen geprüfter Rettungsschwimmer. Jetzt ist es Zeit für sein Praktikum im Mineralfreibad Oberes Bottwartal. Aus der Theorie wird Ernst: er muss plötzlich Leben retten.

Oberstenfeld - Mein Praktikumsdienst beginnt an einem sonnigen, noch etwas kühlen Morgen um 7 Uhr. Noch liegt das Mineralbad tief im Dornröschenschlaf. Die Wasseroberfläche ist glatt wie ein Spiegel. Unter Wasser jedoch wurde die ganze Nacht fleißig gearbeitet. Die „Mariner“ haben fast den ganzen Beckenboden sauber gemacht – so werden die gelben, U-Boot-ähnlichen Unterwasserstaubsauger genannt. Nach kurzer Erklärung drückt mir Betriebsleiter Michael Meyer die Fernbedienung für sie in die Hand: „So, jetzt du! Achte vor allem auf die Ecken, wo der Sauger im automatischen Programm nicht hinkommt.“ Und schon überlässt er mir die Bedienung des Geräts im Wert eines Kleinwagens. Später habe ich sämtliche Beckenränder ausgesaugt und Laub sowie Abfälle penibel aufgesammelt. Komisch, warum habe ich David Hasselhoff bei „Baywatch“ nie putzen sehen?

Badeaufsicht heißt auch Umkleiden reinigen

Und so bringt mir jeder im Team eine neue Facette der Arbeit als Badeaufsicht bei. „Da drüben der Junge mit der roten Schwimmbrille – achte auf den, der ist noch sehr unsicher beim Schwimmen“, ermahnt mich der stellvertretende Leiter, Gunter Stamm. „Hey Leute, habt Ihr euch auch alle eingecremt und genügend getrunken?“ fragt Meyer fürsorglich immer wieder in die Runde seiner Retter. Ab dem Mittag strömen dann die Besucher zur zweiten Badeschicht ins Mineralfreibad.

In der kurzen Pause dazwischen werden sämtliche Geländer, Umkleidekabinen und Toiletten desinfiziert. So ist alles picobello und hygienisch einwandfrei für die nächsten Gäste vorbereitet. Jeder packt mit an.

„Hier hat er dann mit dem Schneidezahn gebremst“

Am Sonntag regnet es in Strömen. Nur eine Handvoll hart gesottener Schwimmer ziehen ihre Bahnen. Rettungsschwimmerin Sarah hat das sprichwörtliche Adlerauge und ermahnt: „Nicht auf die Rutsche!“ Während wir danach miteinander plaudern, gleitet ihr Blick plötzlich an mir vorbei. Ein Junge steigt gerade über die Absperrkette und läuft die gesperrte Schräge hoch. Wie gefährlich das werden kann, hatte mir Mitarbeiter Georgi schon beim morgendlichen Inspektionsgang vor Badebeginn demonstriert. Eine Reparaturstelle schimmert hell aus dem tiefen Blau der steilen Rutschwanne. „Hier ist ein Junge trotz mehrmaliger Verwarnung stehend gerutscht. Und hier hat er dann bei seinem Sturz mit dem Schneidezahn gebremst. Danach wusste er, warum wir das verbieten“, deutet Georgi auf die tiefe, mit Reparaturharz gefüllte Schramme.

Sarah ist zwischenzeitlich quer durchs Mineralbad bis zur Rutsche gesprintet. Die Mutter ist durch den Schrei aufgeschreckt und pfeift ihren Junior selbst zurück. Das ist noch mal gut gegangen. Ohne Wasserfüllung am Ende der Rutsche wäre er ungebremst in den Beckenrand gerummst.

Atmet sie noch? Ist die Verletzte ansprechbar?

Plötzlich zieht ein gellender Schrei alle Aufmerksamkeit auf sich. Im Nichtschwimmer-Becken treibt eine junge Frau regungslos im Wasser. Die Besucherin, die gerufen hatte, scheint selbst Prellungen und Schürfwunden davongetragen zu haben und wirkt verwirrt: „Wir sind doch nur beim Rutschen zusammengestoßen!“ Paul, der ebenfalls mit mir gemeinsam Aufsicht hat, rennt da schon in Richtung Beckenrand, reißt sich den Pulli vom Körper und nimmt Anlauf. Mit einem Kopfsprung taucht er ins Becken ein und hechtet in Richtung der Bewusstlosen. Paul nimmt sie flott in den Rettungsgriff, hebt sie auf den Beckenrand und legt sie dort in stabiler Seitenlage ab. Es beginnt das Rettungsprogramm: Atmet sie noch? Ist die Verletzte noch ansprechbar? Und: Herzdruckmassage!

Plötzlich wird eine Rettungspuppe untergeschoben . . .

Ein Mann in einer gestreiften Weste trifft hinzu. Er heißt Tim Bender und fordert mich auf, ich solle den Notruf absetzen. Doch was ist das? Die „bewusstlose“ Chiara Wahl erhebt sich plötzlich. Erst als uns eine Rettungspuppe untergeschoben wird, dämmert mir: Ich bin mitten in die Jahresübung von DLRG und DRK hineingeraten. „Die Verunglückte hat keinen Puls und atmet nicht. Beginnen Sie sofort mit der Wiederbelebung“, lässt mir der Bender keine Chance für lange Überlegungen.

Wir beginnen also mit der Herzmassage. Immer 30 Stöße auf den Brustkorb, dann Mund-zu-Mund-Beatmung – und das Ganze wieder von vorne. Zwischenzeitlich eilen mehrere Sanitäter in unsere Richtung. Endlich: Unterstützung naht. „Fünf, vier, drei, zwei, eins, Wechsel“ – und schon lösen wir uns gegenseitig bei der Herzdruckmassage ab. Die Retter strahlen Ruhe und Souveränität aus. Eine Nadel wird gezückt, die Kanülen gelegt und ich selbst halte kurzerhand einen Infusionsbeutel. Alles läuft ohne Hektik ab und sehr professionell.

Die Retter kommen in den Flow

Längst haben wir vergessen, dass da nur eine Rettungspuppe am Beckenrand liegt. Wir lösen uns routinemäßig ab und sind im Flow – „fünf, vier, drei, zwei, eins“ – unsere Hände greifen nahtlos ineinander. Dann kommt noch der Defibrillator zum Einsatz. Ich arbeite wie in einem Tunnel. Es gießt aus Kübeln, wir sind nass bis auf die Knochen. Paul klappert mit den Zähnen und hat blaue Lippen. Die Beobachter der Übung schicken ihn daher zum Aufwärmen. Er selbst hätte vermutlich bis zur Unterkühlung weiter um das Leben der „Verletzten“ gekämpft.

Später gibt es noch Manöverkritik: die Beobachter sind sehr zufrieden mit unserer Leistung und sprechen die wenigen Verbesserungsmöglichkeiten an. Jeder findet für sich etwas, was er beim nächsten Mal anders machen. Dieses Mal ist es nur eine Übung mit einer Puppe, doch schon beim nächsten Einsatz zählt vielleicht jede Sekunde . . .

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