Angelika Fink kann Sütterlin-, Kanzlei- und Kurrentschrift flüssig lesen. Foto: Werner Kuhnle

Angelika Fink kann Dokumente bis zurück ins 16. Jahrhundert entziffern und lesen. Die frühere Archivarin von Mundelsheim entlockt dem vergilbten Papier dabei so manche spannende Geschichte.

Mundelsheim - Sie deckt familiäre Dramen auf, gibt Dementen oder Menschen ohne Lebensmut plötzlich wieder einen Lebenssinn. Sie löst auf, was ungewiss erschien, und macht Sterbende damit glücklich und geborgen. Nie hätte Angelika Fink vorhergesehen, welche Aufgabe ihr das Schicksal einmal zuweisen würde. Denn diese Gabe, alte Schriften zu entziffern, wurde ihr nicht von Geburt an ins Stammbuch geschrieben. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie zunächst ihre vier Töchter großgezogen. Doch vor rund 30 Jahren wollte sie selbst wieder mit zum Familienunterhalt beitragen. Der damalige Bürgermeister Hans Wetzel von Mundelsheim hat sie als Archivbetreuerin geholt.

Zum Einstieg hat sich Angelika Fink einen Kurs für Archivare und alte Schriften erbeten. Fink sagt heute zu ihren ersten Entzifferungsversuchen: „Ich habe damals mit dem Tempo eines Grundschülers gelesen.“ Doch mit der Unterstützung von Ernst Schedler hat es nicht lange gedauert, bis sie alte Schriften flüssig lesen konnte. Nach Sütterlin erweiterte sie ihr Wissen auch noch auf die deutsche Kurrentschrift. Für viele Jahrzehnte war das die gebräuchliche Umgangsschrift. Doch damit nicht genug: Für alle amtlichen Dokumente wurde obendrein Kanzleischrift verwendet.

Liebesbriefe, Tagebücher und Kriegsberichte erwachen neu

So unterschiedlich wie Angelika Finks Kunden sind, so unterschiedlich sind deren Wünsche. Sie entziffert die Geheimnisse alter Liebesbriefe, die Kinder im Nachlass der Eltern finden. Sie übersetzt Auszüge aus Kirchenbüchern und unterstützt damit die Ahnenforschung vieler Nachfahren. Sie berät Wohnbauunternehmen, ob es bei neuen Bauvorhaben alte Wegerechte gibt. Sie entschlüsselt Servituten, also Dienstbarkeiten, die Besitzverhältnisse von Grundstücken klären. Und nicht zuletzt erweckt sie alte Tagebücher, Reise- oder Kriegsberichte zu neuem Leben.

Die Jägerin der verlorenen Schriften recherchiert und klärt auf, sodass das, was einst ungewiss erschien, plötzlich klar und transparent wird und viele offene Fragen beantwortet werden können.

Familiengeheimnisse werden entdeckt

Eines Tages wird Angelika Fink kurz vor Weihnachten von einer Frau aus Holland angerufen, deren Mutter verstorben ist. Im Nachlass hat sie viele Briefe ihrer Eltern gefunden, die sie nicht entziffern konnte. Fink überfliegt die Briefe und muss sich zuerst einmal setzen. „Wir müssen da mal reden”, beginne sie solche schwierigen Gespräche, wenn sie etwa ein Familiengeheimnis entdeckt und anschließend die Nachricht überbringen muss. Im konkreten Fall wurde die Tochter adoptiert, wie zahlreiche amtliche Dokumente belegt haben.

Die Nachricht war Schock wie Erleichterung zugleich. Die Liebesbriefe der Eltern enthüllten einerseits ihre Adoption. Andererseits konnte die Betroffene nun aber auch mit eigenen Augen aus den Briefen herauslesen, wie sehr sich ihre Eltern auf sie gefreut und sie als Tochter geliebt haben. „Sie haben mir das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht”, hat sich die Tochter und Besitzerin dieser Briefe bei Fink bedankt.

„Hat sich mein Vater auf mich gefreut?“

In einem anderen Fall hatte eine ältere Frau mit brüchiger Stimme angerufen. Sie habe insgesamt 60  lange Briefe ihrer Eltern gefunden. Ihr Vater hatte sie zwischen 1944 und 1945 von der russischen Front mit der Feldpost an ihre Mutter nach Hause geschickt. Noch vor ihrer Geburt kurz vor Kriegsende ist ihr Vater an der Russlandfront gefallen. „Diese Briefe sind das einzige Bindeglied zwischen meinem Vater und mir, den ich nie kennenlernen konnte”, schildert sie Fink den Grund, warum sie unbedingt die Briefe lesen möchte.

„Hat sich mein Vater auf mich gefreut?” Diese existenzielle Frage beschäftigte die Tochter ein Leben lang. Wie groß muss da die Erleichterung gewesen sein, als Fink bei jedem der erhaltenen Briefe von der übergroßen Freude des gefallenen Vaters auf ihre bevorstehende Geburt zu berichten wusste.

Alte Wegerecht und neue Bauprojekte

Neben solchen anrührenden menschlichen Schicksalen gibt es immer wieder auch ganz handfeste nüchterne wirtschaftliche oder monetäre Interessen an alten Urkunden. So würden viele Wohnbauunternehmen anfragen, ob nicht alte Wegerechte dem neuen Bauprojekt im Wege stünden, erklärt Fink.

„Die Digitalisierung beflügelt geradezu den Wunsch vieler Menschen, alte Schriften zu verstehen”, beobachtet sie. Kirchenbücher sind zwar jetzt digital abrufbar. Doch liegt dann eine alte Schrift über Geburt oder Tod als Kopie oder Digitalisat vor, kann man sie dennoch nicht lesen, schildert Fink das Dilemma vieler Kunden. Und genau hier kommt die Expertin für alte Schriften ins Spiel. „Wir haben alle das Forscher-Gen in uns”, ist Fink überzeugt.

Angelika Fink liest, ihr Mann tippt mit

Das geht dann in Ausnahmefällen sogar so weit, dass sie ihrem Mann – mit Rückenbeschwerden auf dem Boden liegend – vorliest und er das als flotter Maschinenschreiber in den Computer tippt. Für einen reichen Mäzen hat sie etwa viele Kirchenbücher seiner Heimatgemeinde nahe der polnischen Grenze übersetzt, die er den Bürgern zum Geschenk gemacht hat.

Doch das sind Ausnahmen. Heute übersetzt Angelika Fink als selbstständige Schriftexpertin schon auch mal im Urlaub im Campingstuhl sitzend vor ihrem Wohnmobil, verrät sie. Den alten Schriften ihre Geheimnisse zu entlocken, fasziniert Fink immer wieder aufs Neue. Wenn sich Kunden bedanken, ist das für sie Kraftquelle und Motivation zugleich. „Es ist überwältigend“, sagt sie. „Wenn die Besitzer solch alter Schriften nach oft jahrzehntelanger Unsicherheit ein Stück Gewissheit erhalten, wer sie sind und woher sie kommen, ist das wie ein Geschenk für mich.“