Celine, Noah, Silke und Michael Wissmann tanken ein paar Tage vor der OP am 9. September noch Kraft bei einem Ausflug in den Freiburger Seepark. Foto: privat

Die heute 19-jährige Celine Wissmann ist vor fünf Jahren an einer seltenen Form von Leukämie erkrankt. Sie hat sich auf eine bewundernswerte Weise zurück ins Leben gekämpft und studiert in Freiburg Medizin. Jetzt kämpft die Mutter gegen Krebs.

Steinheim - In fast genau einem Jahr feiere ich meine berufliche Silberhochzeit. Manchmal kann ich es selbst gar nicht glauben. Seit 24 Jahren gehört die MZ zu meinem Leben. Meine Familie würde an dieser Stelle sicher sagen, seit 24 Jahren ist sie mein Leben. Ich liebe meinen Beruf und ich liebe es, Teil der MZ-Familie zu sein. Doch bei aller Leidenschaft für meine Arbeit habe ich am eigenen Leib schon gespürt, dass es Wichtigeres gibt als den Job. Wenn man selbst oder aber ein nahestehender Mensch krank ist, verschieben sich die Prioritäten. Spätestens in der Krankheit wird einem klar, dass es nicht selbstverständlich ist, gesund zu sein.

In den vergangenen 24 Jahren habe ich viele Menschen kennengelernt. Ich bin in ihre Lebens- und Leidensgeschichten eingetaucht und habe sie niedergeschrieben. Mal erzählten sie von Glücksmomenten, mal von Abenteuern, mal von überraschenden Kehrtwenden, mal von spannenden Entwicklungen, oft aber auch von tiefen Tälern. Manche Geschichten verblassten in meiner Erinnerung, andere sind auch nach Jahren präsent. Wiederum andere haben mein Leben verändert. Ich habe durch sie dazugelernt und in ein paar Fällen Menschen kennengelernt, die auch nach der beruflichen Begegnung noch zu meinem Leben gehören.

Deshalb musste ich auch nicht lange überlegen, welche Geschichte ich im Rahmen unserer Jubiläumsserie für das Thema Gesundheit noch einmal erzählen möchte. Die Begegnung mit den Wissmanns hat mein eigenes Leben bereichert – und tut es noch. Sie erinnern sich? Celine Wissmann? Im April 2015, kurz vor der Konfirmation der jungen Steinheimerin, veränderte sich das Leben der Familie von einer Sekunde auf die andere. Die 13-Jährige, durch und durch Sportlerin, fühlte sich kraftlos und klagte über Schmerzen im linken Handgelenk. An etwas Schlimmes dachte keiner. Die Orthopädin diagnostizierte einen kleinen Haarriss am Gelenk. An sich kein Drama, doch die Ärztin spürte, dass das nicht alles war. Mutter Silke Wissmann, die als OP-Schwester am Klinikum in Ludwigsburg arbeitet, brachte die Proben ins Labor nach Ludwigsburg, und noch bevor sie wieder daheim war, kam der Anruf, dass sie sofort kommen müssen. Celine hat Krebs. Eine Diagnose, die für jede Mutter und jeden Vater ein Albtraum ist. Eine Diagnose, die den Lebensplan ins Wanken bringt.

Ich kann mich an viele Situationen erinnern, in denen meine Mutter zu mir sagte, dass sie ihr Leben für meines gäbe. Dass, wenn sie wählen könnte, immer sie eine Krankheit auf sich nehmen würde statt meiner. Als Kind und auch als junge Frau hielt ich die Reaktion meiner Mutter für übertrieben, konnte nicht mit ihr umgehen. Inzwischen weiß ich, was sie meinte. Inzwischen kenne ich dieses Gefühl, alles für seine eigenen Kinder auf sich nehmen zu wollen, um sie zu beschützen.

Meine beiden Jungs waren Gott sei Dank bislang nicht schwer krank. Nur als kleine Kinder mussten sie zeitgleich Lungenentzündungen überstehen. Die Zeit in der Klinik war belastend und mehr als einmal dachte ich: Warum sie und nicht ich? Auch wenn die Situation nie wirklich lebensbedrohend gewesen ist.

Die Frage nach dem Warum haben sich Celine und ihre Familie in den vergangenen Jahren mehr als einmal gestellt. Schon ein Tag nach der Diagnose stand fest, dass das zentrale Nervensystem des Teenagers bereits befallen ist. Umgehend wurde die erste Chemobehandlung begonnen. Als wenn die Diagnose Leukämie nicht schon schlimm genug wäre, kam es noch härter, denn nach ein paar Tagen war klar: Celine hat eine akute lymphoblastische Leukämie (ALL), eine extrem seltene Form der Leukämie plus das Philadelphia-Chromosom, ein Gen-Defekt. Eine ausgesprochen riskante Kombination, die sie in die Hochrisikogruppe der an Blutkrebs Erkrankten rutschen ließ. Ein Dreivierteljahr nach der Erst-Diagnose und vielen Hochdosis-Chemoblöcken, als das gern zitierte Licht am Ende des Tunnels greifbar nahe schien, schoben sich die nächsten dunklen Wolken vor den Ausgang: An der Herzklappe hatte sich ein Thrombus gebildet. Wenig später hatte die 13-Jährige noch gegen eine Sepsis anzukämpfen.

Wie viel Schmerz, wie viel Verzweiflung, wie viel Angst kann ein junger Mensch aushalten? Wie viel Schmerz, wie viel Verzweiflung, wie viel Angst können Mutter, Vater und der kleinere Bruder aushalten? Viel – das weiß ich, seit ich die Wissmanns kenne. Respekt und Bewunderung sind die Worte, die mir einfallen, wenn ich an sie denke. Aufgeben? Für Celine war das nie eine Option. Sie hat sich mit einem unglaublichen Willen und einer unglaublichen Disziplin zurückgekämpft ins Leben.

Mit einer Familie an der Seite, die Halt und Hoffnung gab. Und vielen vielen Menschen, die mit ihr bangten und für sie beteten. Knapp 3500 Mitglieder hat die von der Marbacherin Andrea Hahn betreute Facebook-Gruppe „Für Celine“. Es gab Kuchenverkäufe in Marbach und Steinheim, eine Typisierungsaktion, und sogar der Marbacher Gemeinderat schickte Celine im Juli 2015 eine Botschaft. „Halte durch, Celine!“ stand auf großen Plakaten, die die Räte in den Händen hielten. Die Aktion sollte der FSG-Schülerin und ihrer Familie Kraft geben.

Zeichen, die zeigen, dass es viele mutmachende Initiativen und viele Menschen mit Herz gibt – auch wenn ich manchmal am Verzweifeln darüber bin, wohin sich unsere Gesellschaft bewegt, weil Egoismus und Hass die guten Zellen immer mehr auffressen. Zeichen, die zeigen, dass es sich lohnt, nicht auf den Schatten, sondern auf das Licht zu schauen.

Wenn ich an die Begegnungen mit Celine und ihrer Familie denke, beruflich, aber auch privat, dann sehe ich vor allem Licht. Ich sehe eine wunderschöne junge Frau vor mir, die immer noch medikamentös behandelt und engmaschig untersucht wird, aber frei von Krebszellen ist. Ich sehe eine strahlende junge Frau vor mir, die sich ihren Traum erfüllt und mit dem Einser-Abi in der Tasche inzwischen in Freiburg im dritten Semester Medizin studiert. Ich sehe eine Familie vor mir, die durch tiefe Täler gewandert ist, sich dabei aber nie losgelassen hat. Und ich sehe eine Mutter vor mir, die wie eine Löwin für ihre Kinder kämpft. Unermüdlich. Eine Mutter, die in den vergangenen Jahren alles für die Familie gegeben hat – und jetzt selbst Hilfe braucht.

In einer Phase, in der die Familie es verdient hätte, durchzuatmen, aufzutanken und das Leben zu genießen, wurde nach der Tochter jetzt auch bei Silke Wissmann Krebs diagnostiziert. Die 44-Jährige hat ein adenoid-zystisches Karzinom. Ein seltener, bösartiger Tumor, der sich von Drüsengeweben ableitet und insbesondere im Kopf- und Halsbereich auftritt. Bei Silke Wissmann sitzt er in den Speicheldrüsen. In Kopf und Lunge haben sich Gott sei Dank keine Metastasen gebildet. Elf Stunden lang wurde die Steinheimerin am 9. September in Heidelberg operiert. Ihr wurden die Speicheldrüse am Block mit einem Teil des Oberkiefers und zwei Backenzähnen sowie die Lymphknoten am Hals entfernt. Am linken Unterarm wurden drei Hautlappen mit Arterie und Nerv entnommen und in den Mund zum Decken des Defektes transplantiert. Danach lag sie vier Tage auf der Intensivstation, drei davon in künstlicher Beatmung. Diese Woche startete die mehrwöchige Bestrahlung in Heidelberg.

Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Wie viel Angst kann eine Familie ertragen? Als mir Silke von der Diagnose erzählte, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Tränen der Verzweiflung und Tränen der Wut. Und erneut haben die vier mich überrascht und mir gezeigt, was Stärke ist. Als sie vom Krebs der Mutter hörte, habe sie sich natürlich gefragt, warum es wieder sie treffen musste, erzählt Celine. „Aber diese Frage führt zu keiner Antwort“, erklärt sie mir, als wir miteinander telefonieren, und beweist damit einmal mehr, was für eine besondere Persönlichkeit die inzwischen 19-Jährige ist.

Als die Mutter nach der schweren Operation in Heidelberg lag, habe der Perspektivenwechsel ihr gezeigt, wie es den anderen Familienmitgliedern all die Monate gegangen ist, als sie im Krankenhaus gelegen hatte. „Die Mama ist stark“, sagt Celine und strahlt. Ja – Silke Wissmann ist stark. Sie ist eine Löwenmama. In den Wochen nach der OP und vor dem Beginn der Bestrahlung hat die 44-Jährige weiter für ihre Lieben gesorgt. So wie sie es auch vor der Diagnose gemacht hat. Es wurde gekocht und gebacken, was das Zeug hält – obwohl sie selbst nur Brei zu sich nehmen kann.

Aufgeben ist keine Option für die Wissmanns. Auch in den dunkelsten Zeiten strahlen sie noch so viel Optimismus aus, dass es mich anrührt und fast schon beschämt, wenn ich daran denke, wie unruhig ich auch heute noch manchmal werde, wenn eines meiner Kinder einfach nur fiebert. Die Begegnung mit diesen wunderbaren Menschen hat mich viel gelehrt – auch über die heilsame Kraft der Familie, die sie hält und trägt. Gesundheit ist nicht selbstverständlich. Es ist ein kostbares Gut, das wir schätzen und nicht mit Füßen treten sollten, denn von einer Sekunde auf die andere kann alles anders sein in unserem Leben.

Zur Person
Karin Götz arbeitet seit November 1996 bei der Marbacher Zeitung. Nach ihrem Volontariat begann sie als Lokalredakteurin, im Jahr 2000 wurde sie stellvertretende Redaktionsleiterin, 2005 dann Leiterin der Lokalredaktion. Die gebürtige Remstälerin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen seit neun Jahren in Rielingshausen. Das Schreiben und Zeitungsmachen wurde ihr in die Wiege gelegt. Ihr Vater, Richard Retter, war mehr als 40 Jahre lang Chefredakteur des Zeitungsverlages Waiblingen. Wie er, liebt sie den Kontakt zu Menschen und das Eintauchen in ihre Lebensgeschichten. Darüber hinaus ist die Berichterstattung über Kommunalpolitik ein Steckenpferd der studierten Politikwissenschaftlerin.