Idylle pur: Ein See in der Ukraine. Foto: Andreas Hennings)

Der Fußball brachte Redakteur Andreas Hennings die Ukraine nahe. Jetzt kommen die Erinnerungen hoch.

Marbach/Bottwartal - Das Bild habe ich noch im Gedächtnis, wie ich mich in Murr ins Auto setze. Die Rückbank hinter mir ist umgeklappt, die freie Fläche ausgepolstert und mit einem Schlafsack versehen. Dazu ein paar Klamotten und Lebensmittel. Ins Navi gebe ich Lemberg ein. Lwiw. 1553 Kilometer werden mir angezeigt, knapp 15 Stunden Fahrtzeit. Ein Foto davon existiert noch. Dann geht’s los, in eine mir unbekannte Welt: Eine Rundtour durch die Ukraine. Ohne die Fußball-EM hätte es mich nie dorthin verschlagen. Zehn Jahre ist das her.

Kennengelernt habe ich diese unbekannte Welt dann ganz und gar nicht als trist oder grau, wie ich es mir manchmal ausgemalt hatte. Die Farben in der ukrainischen Flagge stehen nicht umsonst für blauen Himmel und fruchtbaren Boden. Die Getreidefelder reihen sich bis über den Horizont hinaus aneinander. Störche fliegen umher, nisten auf den Dächern. Das Karpatengebirge erinnert an den Schwarzwald. Dazu schmucke, geschichtsträchtige Altstädte mit kopfsteingepflasterten Fußgängerzonen und vielen, vielen Cafés. Die alten Gebäude sind, zumindest in Lwiw, auf verwinkelten Gewölbekellern gebaut, in denen sich in Bars und Restaurants das Leben abspielt. Und im Süden am Schwarzen Meer bei Odessa weißer Sandstrand, an dem Familien ihren Urlaub verbringen. Die Temperaturen, das Flair, es hat was von ruhigen Ecken am Mittelmeer.

Die Menschen empfingen mich mit offenen Armen

Die Ukraine empfing mich mit offenen Armen. Die Menschen taten es. Teils bitterarm, begegneten sie mir umso herzlicher. Auch auf dem Land, weit weg vom Fußballtrubel. Die Bevölkerung lebt mit den verschiedensten Kulturen und Religionen friedlich mit- und nebeneinander. Jetzt feierten sie mit Gästen aus allen Ecken des Kontinents ein mehrwöchiges Fest. Die Menschen, gerade die Jungen, zeigten sich weltoffen, gebildet, wissbegierig, manche lernen oder lernten Deutsch an Schule und Uni. Was aufgrund der kyrillischen Schrift eine noch größere Herausforderung sein dürfte, als es das sowieso ist. Zu manchen von ihnen besteht bis heute Kontakt. Meine Erzählungen von der Reise können damals nicht allzu negativ gewesen sein, ein Jahr später reisten auch meine Eltern in die Ukraine.

Jetzt zu hören, dass Menschen dort verletzt, getötet werden, zu sehen, wie Rauch aufsteigt, wie sich die Bevölkerung in Bunkern und U-Bahn-Stationen versteckt, wie sie flieht, das schmerzt. Die Ukraine ist bei uns vielleicht oft eine unbekannte Welt, doch sie ist nicht fern. Von Berlin nach Lwiw ist’s kürzer als von der Zugspitze nach Flensburg. Möge das Leid bald ein Ende haben.

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