Cornelia Ohst erinnert sich gut an die Begegnung mit Samuel Koch, denn sie hat sie sehr berührt. Foto: privat

Samuel Koch ist bei „Wetten dass. . ?“ 2014 schwer verunglückt und seither querschnittsgelähmt. Keine vier Jahre später war er bei einer Konzertlesung in Murr. Ein Auftritt, der tief beeindruckt hat.

Murr - Ergriffenheit ist eine Reaktion, die mich bei meiner Aufgabe als Berichterstatterin häufig begleitet. Mitunter rollen sogar mal ein paar Tränen der Rührung. Denn groß ist das Feld menschlicher Berührbarkeit. Doch erschütternde Schicksale stehen auch bei uns Journalisten nicht gerade oft auf der Tagesordnung. Besonders schwingen deshalb Begegnungen in mir nach, die mich mit Menschen in Berührung brachten, deren Leben durch jähe Eingriffe gekennzeichnet ist, die in ihrer Absolutheit nur schwer zu ertragen sind. Ein Erlebnis dieser Kategorie hat mich im Juli 2018 nachhaltig beschäftigt. Und es hat mich wieder einmal auf die Erkenntnis zurückgeworfen, dass das Leben weder fair noch umkehrbar ist.

Bei der Konzertlesung von „Samuel und Samuel“ in der Murrer Gemeindehalle trat diese Gefühlslage heftig zutage. Direkt in der ersten Reihe platziert, saß ich jenem Mann gegenüber, der bei der Fernsehsendung „Wetten dass . . ?“ einen schweren Unfall erlitten hat: Samuel Koch. Der damalige Kunstturner hatte sich bei dem Versuch, mit speziellen Sprungstiefeln über ein fahrendes Auto zu springen, so sehr verletzt, dass er seither querschnittgelähmt ist.

Weil ich bei der Lesung quasi direkt unter ihm vor der Bühne saß, bemerkte Koch zwangsläufig, dass da jemand sitzt und eifrig mitschreibt, was auf der Bühne gesprochen wird. Irgendwie schien ihn das irritiert zu haben, denn Koch sprach mich von der Bühne herunter, neugierig, aber freundlich, an.

Ich frage mich noch heute, ob Samuel Koch in diesem Augenblick wohl gespürt hat, wie fasziniert ich davon war, dass er trotz seiner Querschnittlähmung so taff auf dieser Bühne saß und aus seinem Buch las, das geprägt ist von der mentalen Verarbeitung seines Schicksals und dem körperlichen Gefängnis. Schließlich hatte sich der damals knapp über 20-Jährige bei der Wette gleich viermal das Genick gebrochen. Auch seine Halsschlagader wurde verletzt, wodurch sein Rückenmark – durch das einfließende Blut – gequetscht wurde.

Freiheit dürfte also nicht die erste Assoziation gewesen sein, die sich mir, beim Anblick des lesenden Samuel Koch, in mein Bewusstsein drängte. Immerhin hatte ich beim dezenten Hinüberhieven seines Körpers vom Rollstuhl auf den Ohrensessel – den das Veranstaltungsformat fordert – miterleben müssen, wie körperlich hilflos der Mann ist. Zwei Helfer wurden dazu benötigt. Und trotzdem habe ich in meiner Erinnerung die Begegnung als einen Akt der Freiheit abgespeichert. Denn im Kontrast zu seinem körperlichen Gefängnis, das ihm heute im Wesentlichen zubilligt, den Kopf und inzwischen auch die Arme eigenständig bewegen zu können, hat Samuel Koch es offensichtlich verstanden, auf anderer Ebene Befreiung für sich zu bewirken. Obwohl sein Leben von einem Moment auf den anderen komplett auf den Kopf gestellt wurde, hat dieser Mann sich nicht verkrochen. Er lebt weder abgeschieden, noch scheint er von Bitternis zerfressen, und seit 2016 ist er mit der Schauspielerin Sarah Elena Timpe verheiratet.

Mir wurde klar: Wie Samuel Koch trotz seiner niederschmetternden Diagnose lebt, bedeutet, dass sich Freiheit im Kopf abspielt. Laut Sokrates und Platon ist der Mensch frei, wenn er mittels Vernunft das Beste wählt.

Koch hat für sich offensichtlich die Freiheit gewählt, auszuprobieren, was für ihn – im Rahmen des körperlich Zulässigen – das Beste ist. Und noch viel wichtiger: Er hat sich trotz schwerer Lebenskrise seine Handlungskraft bewahrt und gezeigt, dass er die Richtung in seinem Leben selbst vorgibt. Das ist Freiheit pur in meinen Augen. Koch meistert sein Leben aus eigener geistiger Kraft heraus. Für mich saß im Juli 2018 deshalb ein Held auf der Bühne. Ja, sogar ein Freiheitskämpfer, der durch seine Art, das Schicksal anzunehmen, Vorbild für uns alle sein kann.

Wie oft lamentieren wir wegen irgendetwas Banalem? Wie sehr lassen wir Frustration zu? Etwa, weil wir – wie derzeit - nicht ungehindert reisen können und Corona uns zum x-ten Mal einen Strich durch die Rechnung macht, obwohl wir dennoch in Freiheit leben.

Ich erinnere mich an diesen Samuel Koch als eine Art Lichtfigur, die mir gezeigt hat, was wirkliche Freiheit bedeutet. Ich staunte über den trockenen Humor, die Albernheiten, die bei den Lesekonzerten wie bei einem Pingpong-Spiel von Samuel Koch zu Samuel Harfst hin und her springen. Ich erfreute mich an den klugen, ja oft philosophischen Sätzen und den feinsinnigen Gedanken Kochs wie auch an seiner gelegentlichen Scharfzüngigkeit. Ich nahm seine Angriffslust wahr, wie überhaupt einen unstillbaren Hunger nach Leben, obwohl sich zwischen seinen Zeilen gelegentlich Schwermut und Traurigkeit ausdrückten. Der Künstler, der sich in seinen Büchern zum philosophieträchtigen Unterhalter aufschwingt, macht nie einen Hehl aus seinem Zustand. Freiheit aber findet bei Koch im Austausch mit seiner tiefen Gefühls- und Gedankenwelt statt. Ich nehme diesen Mann als ein Individuum wahr, das seine körperliche Unfreiheit bezwingt, indem es sich nicht als Opfer apostrophiert, sondern als aktiven Menschen, der vorwärtsstrebt. Samuel Koch hat im Jahr 2014 sein kurz vor dem Unfall begonnenes Schauspielstudium vollendet.

Mit seiner Abschlussarbeit, so ist zu lesen, hat er sich mit dem Thema Behinderung auf der Bühne auseinandergesetzt. Diese trägt den Titel: Die Entdeckung des Schönen in der Reduktion. Und genau so habe ich den Künstler wahrgenommen. Seine geistige Freiheit strahlt nach außen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Koch – körperlich auf eine minimale Bewegungsfreiheit reduziert – mental so frei ist, dass er zu geistigen Höhenflügen ansetzt. Er tritt dabei den Beweis an, dass Freiheit mehr ist als die selbstbestimmte Ausübung körperlicher Funktionen. Fundiert, logisch aufgebaut und mit überraschender Selbsterkenntnis „geht“ Samuel Koch auf die Menschen zu; und er geht noch einen großen Schritt weiter. Er will sich von Schmerz und körperlicher Gefangenheit befreien, indem er sich auf seinen geistigen Zustand konzentriert und über den freien Willen zu Leistungen auf ganz neuen Gebieten kommt.

Zur Person
Cornelia Ohst hat nach dem Wirtschaftsstudium mit den Schwerpunkten Personalwesen und Marketing ein Kurzvolontariat bei einer Lebensmittelfachzeitschrift in Rheinland-Pfalz absolviert. Danach war sie als Ausbildungsleiterin in einem großen Bürohandelshaus für über 40 Auszubildende zuständig und hat für ihren damaligen Arbeitgeber auch Werbetexte entworfen. Nach der Familienphase hat sie eine Ausbildung als zertifizierte Trainerin in der Erwachsenenbildung absolviert und engagiert sich seither als Dozentin für Kommunikationsthemen und als Persönlichkeitstrainerin. Die Kultur hat in ihrem Leben stets eine bedeutende Rolle gespielt. Auch hat sie selbst jahrelang Gesangsunterricht erhalten. Seit dem Jahr 2008 schreibt sie regelmäßig als freie Journalistin in den Bereichen Kultur und Gesellschaft für die Marbacher Zeitung.