Mit Schiller auf dem Lesesessel: Buchhändler Markus Schneider. Foto:  

Hochkarätige Preise gab’s für die Marbacher Buchhandlung Taube schon öfter. Dass sie diesen Dienstag den „EK Passion Star“ für „atemberaubenden Unternehmergeist“ erhält, ist ein besonderer Ritterschlag. Was macht dieser Laden anders als andere?

Lesen verleiht Flügel“ heißt es. Dass der Laden, in dem sich alles um das beflügelnde Kulturgut Buch dreht, ausgerechnet Taube heißt, ist zwar ein Zufall – er stammt von der früheren Besitzerin. Der symbolträchtige Vogel, Synonym für Frieden, Freiheit und Liebe, ist aber ein geradezu perfekter Namenspate für sein Geschäft, findet Markus Schneider. Der 45-Jährige hat eine Marke daraus gemacht: Er selbst firmiert unter „Täuberich“, seine Newsletter heißen „Taubenpost“, im Lockdown belieferte sein Team die Kunden per Lastenrad als „Tauben-Express“, und Veranstaltungen an überraschenden Orten, etwa in der örtlichen Lederfabrik Oehler, steigen unter dem Motto „Die Tauben fliegen aus“.

Der Einfallsreichtum, die Lust auf ungewöhnliche Aktionen, die weit über die reine Geschäftsbeziehung hinausgehende Kundenbindung: Sie haben dem „Täuberich“ und seinem Team wegen ihres „atemberaubenden Unternehmergeistes“ jetzt den „EK Passion Star 2022“ eingebracht. Der Preis für „Leidenschaft im Einzelhandel“, den die EK jährlich vergibt – eine große europäische Mehrbranchen-Verbundgruppe, die rund 4200 selbstständige Einzelhandelsunternehmen betreut – , ist für Markus Schneider etwas Herausragendes, obwohl er zum Beispiel auch schon zweimal den Deutschen Buchhandlungspreis erhielt. „Aber dass ein internationaler, nicht branchengebundener Preis an uns geht, das macht uns schon sehr stolz. Und es strahlt auch nach Marbach aus.“

Der Mann, der immer das halb volle Glas sieht

Was macht die Taube so einzigartig? Bevor er dazu etwas ausholt, springt Schneider erst mal ins Eiscafé La Porta gegenüber und holt frisch gebrühten Kaffee. „Wir sind doch nicht allein hier. Marbach funktioniert nur als Netzwerk“, begründet er, warum er den Koffeinschub nicht kurz am ladeneigenen Automaten gebraut hat. „Alles, was ich vor Ort besorgen kann, besorge ich auch vor Ort.“ Schneider fühlt sich dem Standort verbunden und verpflichtet: Er hat Marbach lieben gelernt, dieses Städtchen, in dem er seit 2011 Filialleiter und seit 2014 Inhaber der Taube ist. „In Marbach ist durch Schiller, das inspirierende Literaturarchiv, das Fritz-Genkinger-Kunsthaus oder das Tobias-Mayer-Museum das ganze Jahr über was los. Wir werden bald eine tolle, neue Fußgängerzone haben“, schwärmt er, „und in elf Jahren die Gartenschau. Wie großartig ist das denn!“

Der Mann, der „immer das halb volle Glas sieht, nicht das halb leere“, hat in Marbach, „dem coolen Pflaster mit tollen Leuten und der Leserschaft mit literarischem Anspruch“, den Nährboden gefunden, auf dem kreative Ideen gedeihen. Ideen wie das Lese-Stipendium für Menschen, „die nicht mal locker ein Buch kaufen können“: Ein Jahr lang dürfen sich die Stipendiaten jeden Monat für 20 Euro Lesestoff aussuchen. Die Initiative finden manche Kunden so gut, dass sie mittlerweile ihrerseits Gutscheine dafür stiften.

Blind Date mal anders

Die Taube verkauft auch „Blind-Date“-Bücher. Sie sind unkenntlich verpackt, die Kunden müssen dem Laden vertrauen: Sie bekommen vorab nur ein paar Tipps. Es gibt sogar ein Tauben-Abo, bei dem Schneider monatlich eine Buch-Überraschung verschickt. „Ich habe erst zweimal ein Buch zurückbekommen, aber nur, weil es bereits vorhanden war“, erzählt der „Täuberich“. In den Sommerferien gibt es eine Sonntags-Aktion für Nicht-Verreiste, dazu kommen Lesungen, Veranstaltungen und Kooperationen mit Kindergärten, Schulen und örtlichen Institutionen. Und wer den „Buchgenuss nach Ladenschluss“ bucht, kann sich abends mit Freunden bei Häppchen und Getränken einschließen lassen und exklusiv schmökern. Das ging bisher fast immer gut. Nur einmal artete es in einen kleinen Party-Exzess aus.

Die Taube zelebriert die Kunst, den Kunden auf überschaubaren 120 Quadratmetern Verkaufsfläche die große Welt der Literatur zu zeigen – von Mainstream über Lyrik bis zu aparter Buchkunst, etwa als Partnerbuchhandlung der Büchergilde Gutenberg. „Wir wollen Büchern die Chance geben, gesehen zu werden. Das macht jeden Tag anspruchsvoll und besonders“, sagt Schneider. „Und ich freue mich jedes Mal, wenn ich die Tür hier aufschließe.“ Daran hat auch der Raum selbst einen bedeutenden Anteil: Die rund 700 Jahre alte spätgotische Wendelinskapelle mit ihren viereckigen maßwerkverzierten Chorfenstern und den freistehenden Gewölberippen hat eine ganz eigene Aura. Einst als Privatkapelle erbaut, gehört sie heute der Stadt. Die Taube ist dort Mieterin, zusammen mit einer Galerie. „Es ist ein kraftvoller, besonderer, spiritueller Ort“, fasst es der Buchhändler in Worte. Zwar ist’s im Winter einen Kittel kälter, im Sommer kann man nicht lüften, und Schaufenster gibt es auch keine. „Aber wenn morgens die Sonne durch das große Fenster strahlt, ist das magisch.“

„Der Einzelhandel hat eine Zukunft“, ist Markus Schneider sicher

In seinem Laden und dem Pendant, das Schneider in Waiblingen eröffnet hat, bildet er auch aus. „Weil es toll ist, wenn junge Leute ins Team kommen, die eine andere Sicht auf Literatur haben, frischen Wind und Ideen mitbringen“, sagt Schneider. „Und weil ich daran glaube, dass der Einzelhandel eine Zukunft hat und es auch noch Läden wie unseren geben wird, wenn ich mit 80 am Rollator durch Marbach wackle.“ Allerdings müssten die Geschäfte die Nachfolgeregelung in den Griff bekommen – ein Problem, das er als signifikanter einschätzt als das veränderte, Richtung Netz changierte Kundenverhalten.

Wenn Schneider und sein Team an diesem Dienstag mit Gästen die Übergabe des „EK Passion Star“-Awards feiern, wird sich der Laden in der Wendelinskapelle einmal mehr als das erweisen, was der „Täuberich“ an ihm schätzt: nicht allein als Arbeitsplatz, sondern als Lebensraumerweiterung.