Ups, was ist denn da passiert? Eine nicht unbedingt lehrbuchgerechte Dachgaube in Saarbrücken. Weitere hübsche Bausünden-Beispiele finden Sie in unserer Bildergalerie! Foto: Turit Fröbe

Es lebe die Bausünde – aber nur die gute! Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe bricht eine Lanze für architektonische Fehlleistungen. Ihr Fotoband „Die Kunst der Bausünde“ ist eine Augenweide.

Stuttgart - Schlechte Architektur ist keine Kunst, deshalb gibt es leider ziemlich viel davon. Gute Bausünden hingegen sind selten – und manchmal so kunstvoll, dass sie paradoxerweise die gleiche Wirkung wie architektonisch Herausragendes haben. „Eine gut gemachte, originelle Bausünde zeichnet sich durch Mut, Einfallsreichtum und eine beherzte Entschlossenheit aus. Sie verfügt über eine herausragende Bildqualität und hebt sich souverän aus dem unendlichen Meer der gesichtslosen, allgegenwärtigen Banalitäten ab“, sagt die Architekturhistorikerin Turit Fröbe. Die schlechte Bausünde aber sei so allgegenwärtig wie austauschbar und bleibe deshalb unter der Wahrnehmungsschwelle.

Vor sieben Jahren hat die Autorin mit ihrem Fotoband „Die Kunst der Bausünde“ auf Anhieb einen Klassiker geschaffen. Ihre wunderbar ironischen und doch von tiefer Durchdringung der Materie gekennzeichneten, knapp formulierten Thesen zum Wesen der Bausünde, die eine Rehabilitation derselben zum Ziel haben, belegt sie mit einem Bündel an fotografischem Beweismaterial: Kirchen im Bunkerstil, Erker-Eier an Plattenbauten, Eigenheim-Monstrositäten in der Vorstadt.

Das Fake-Stadtschloss – eine neue Bausünden-Spezies

Nun hat Fröbe den Band aktualisiert und neu herausgebracht (DuMont, 184 Seiten, 20 Euro). Neue Motive sind indes nicht dazu gekommen, dafür gibt es im Nachwort ein Update, welche Bausünden die vergangenen Jahre nicht überlebt haben, wie etwa die sogenannte Humboldt-Box in Berlin. An deren Stelle erhebe sich nun „eine neue Bausünden-Spezies (...): das neue errichte Berliner Fake-Stadtschloss“. Touché!

Jenseits dieser minimalen Überarbeitungen bereitet der Band dem Betrachter wie gehabt ein wonniges Vergnügen. Die Rückseite eines Kaufhauses so erfolgreich zu verunstalten, wie es bei der Karstadt-Filiale in Dresden gelang – ein klarer Fall einer „ambitionierten Bausünde“. Diese ist zu unterscheiden von jener, die nur ein irgendwie rätselhafter Planungsunfall ist, so wie etwa die Gaube, die sich in Saarbrücken so durch die Dachtraufe schiebt, dass die Dachrinne mittig vor der Fensterscheibe liegt.

Das schwäbische Eislingen tut sich hervor

Hinzu kommen jene Fälle, bei denen die Schnelllebigkeit des Zeitgeists die Ursache der Wahrnehmung als Fehlleistung ist. Denn, Achtung, Freunde des neuen Purismus und der Lochfassaden: Was heute hip ist, kann schon morgen eine Bausünde sein. Der Steglitzer Bierpinsel in Berlin, einst „euphorisch begrüßte Pop-Art“, gilt heute als eine „der bildgewaltigsten Bausünden der Stadt“. Umgekehrt können einst als Architekturunfall eingestufte Bauten irgendwann einmal richtig groß herauskommen – der Pariser Eiffelturm zum Beispiel.

Richtig produktiv, was den Output an Architektur-Verbrechen angeht, ist die Kunst am Bau und im öffentlichen Raum. Auf diesem Feld hat sich aus Sicht von Turit Fröbe vor allem das schwäbische Eislingen hervorgetan, wo mit Kreiselkunst, also Kunst im Kreisverkehr, „unverwechselbare städtische Plätze“ geschaffen werden sollten. Ein ambitioniertes Ziel, das mitnichten verfehlt wird, wie etwa eine in ein rotes Kleid gehüllte, kopflose „Wegweiserin“ demonstriert, die sich im Wind dreht und als Sinnbild für den „unendlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens“ verstanden werden will.

Das benachbarte Göppingen hält bei den Kreisel-Scheußlichkeiten tapfer mit und lässt einen blauen Golf apart zerbersten. Stuttgart glänzt in dem Band interessanterweise mit Abwesenheit, scheint man hier nicht einmal gute Bausünden zustande zu bringen? Erwähnt wird die Landeshauptstadt nur mit einem undurchsichtigen Satz: Stuttgart habe „ in den letzten Jahren seine innerstädtischen Bausünden hinter Glas gesetzt und verleugnet sie vollkommen.“

Schizohäuser am Stadtrand

Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, findet sie freilich zuhauf, in Stuttgart und anderswo, die Sündenfälle, die durch verhunzte Anbauten, hässliche Beschriftungen und geschmacklose Dekorationen verbrochen wurden, oder durch Überformungen von Bestandsgebäuden durch Verkleidungen und sonstige grässliche, aus dem Baumarkt-Sortiment gespeiste Updates. Einen unerschöpflichen Bausünden-Fundus bieten Stadtrand oder Vorort mit zu Villen aufgemotzten Bungalows, die tief blicken lassen in die minderwertigkeitskomplex-beschwerte Psyche der Hausbesitzer. Ebenfalls weit verbreitet sind, wie Fröbe belegt, „Schizohäuser“ – Doppelhäuser und Reihenhaus-Nachbarn, deren Besitzer Fassaden, Treppenstufen, Windfänge und Haustüren sehr individuell und dabei komplett konträr zur gestalterischen Selbstverwirklichung nutzen.

Gute Bausünden würden jedoch immer häufiger durch schlechte ersetzt, stellt die Autorin mit Bedauern fest, immer seltener erblicke architektonisch Anstößiges das Licht der Welt. Tatsächlich scheint gestalterische Mutlosigkeit und eine vom Daumen-hoch-Druck des Icon-Zeitalters nivellierte Einheitsästhetik die Bausünde vom Aussterben zu bedrohen. Fatal für die Baukultur, ist doch ein perfekter Baumurks jedem architektonischen Mittelmaß überlegen.