Die Tür und die Fensterladen des Turms sind verschlossen – und das wohl seit mehreren Jahrzehnten. Foto: Dominik Thewes

20 Türen wurden in unserer Adventsserie geöffnet – doch eine bleibt verschlossen. Um den Turm am Polizeirevier hat sich ein Geheimnis aufgetan.

Marbach - Er befindet sich mitten im Geschehen – und ist doch außen vor: der kleine Turm vor dem Marbacher Polizeirevier. Wohl jeder aus der Region hat das Gemäuer schon gesehen oder unbewusst wahrgenommen. Ob es die tausend Schüler sind, die sich Tag für Tag in Bussen um den Turm herumschlängeln. Ob es die Autofahrer sind, die hier im Berufsverkehr im Stau stehen oder das gegenüberliegende Parkhaus ansteuern. Oder ob es die Spaziergänger und Radfahrer sind, die inständig hoffen, beim Um-die-Ecke-Biegen auf dem Gehweg mit niemandem zusammenzustoßen. Schließlich gewährt der Turm an der Ecke Graben-, Steinerstraße keine Umsicht.

Im Rahmen unserer Adventsserie hätten wir die hölzerne Tür dieses Gemäuers gerne geöffnet und unseren Lesern einen Einblick ins Innere gewährt. Was befindet sich darin? Befindet sich überhaupt etwas darin? Wer hat Zutritt? All das galt es herauszufinden. Doch statt auf den zugehörigen Schlüssel sind wir im Zuge unserer Recherche auf ein Rätsel, ja auf ein tragisches Schicksal gestoßen. Denn der kleine Turm ist in Vergessenheit geraten. Und nicht nur das: Manch einer, dem das Türmchen gehört, weiß nicht einmal von seinem Glück. Um das Desaster des Turms perfekt zu machen, gibt es offensichtlich nicht mal mehr einen Schlüssel, der dieses Türchen hätte öffnen und sein Geheimnis lüften können. Den heutigen letzten Teil unserer Adventsserie müssen wir also umbenennen: „Türchen öffne dich – nicht!“

Wie tragisch es um den Turm bestellt ist, bringt die Aussage des langjährigen Marbacher Polizeibeamten Wolfgang Held auf den Punkt. „Seit hier das Polizeigebäude im Jahr 1992 bezogen wurde, habe ich diese Tür nie geöffnet gesehen.“ Und das nächste Kuriosum: Der Polizist war bislang davon ausgegangen, dass der Turm der Stadt gehört. Dort war man auf Nachfrage wiederum ziemlich sicher, dass der Turm Eigentum des Landes sei. Doch bevor zumindest dieses Rätsel geklärt werden kann, beginnt die Spurensuche an anderer Stelle...

Aufgrund der Nähe zur historischen Stadtmauer drängt sich nämlich der Verdacht auf, dass der Turm einst ein Teil jener war. Dem schiebt Albrecht Gühring vom Stadtarchiv gleich einen Riegel vor. Auf unsere Anfrage hin wälzt er in sämtlichen Stadtkarten, sucht nach dem Turm, nimmt Kontakt mit dem Marbacher Stadtbauamt und der Liegenschaftsverwaltung in Ludwigsburg auf. Seine Vermutung: „Der Turm ist wohl zwischen 1880 und 1883 gebaut worden.“ Auf einer Karte aus dem Jahr 1832 ist er nicht eingezeichnet, 1883 hingegen schon. In einem Eintrag im Steuerbuch von 1923 wird er dann ebenso fündig: Besitzer Alfred Palm, Gartenhaus und Mauer, 44 Quadratmeter. Flurname: Im Bangert, Nutzung Gemüse- und Baumgarten.“ Ein Vorbesitzer von Palm muss den Turm also gebaut haben. Da ist sie also, die erste Erkenntnis: Statt um einen historischen Teil der Stadtmauer handelt es sich um ein einfaches Gartenhaus, das einst auf einer Streuobstwiese stand. Zwar ist auch in den Bauakten beim Stadtbauamt nichts zur Entstehung des Turms enthalten, auch nichts aussagekräftiges zum Alter. Im Baugesuch des Polizeireviers wird er jedoch ebenfalls als Gartenhaus erwähnt, teilt Ralf Lobert vom Stadtbauamt mit.

Dann ein weiteres Indiz vonseiten der Stadt, bei der Bürgermeister Jan Trost und der Erste Beigeordnete Gerhard Heim darauf verweisen, dass der Turm inzwischen dem Land gehört: Dieser könnte aufgrund seines Alters unter Denkmalschutz stehen, denn auch die Mauer verläuft noch um das Polizeigebäude. Beim Landesdenkmalamt in Esslingen gibt Pressesprecherin Katja Lumpp entsprechend Auskunft: Der Turm steht nicht unter Denkmalschutz, vielleicht lasse sich über aber das Amt für Vermögen und Bau in Ludwigsburg mehr erfahren. Dieses ist für die Liegenschaften des Landes zuständig. Dort die nächste Erkenntnis, mit der sich zumindest die wenigen Puzzleteile zusammenfügen lassen: „Es handelt sich vermutlich um ein Gartenhaus. Es gehört zum Grundstück Steinerstraße 2 (Polizei), und seit 1983 zum Land“, erklärt der Amtsleiter Andreas Hölting, und verweist auf den genannten Polizeibeamten Wolfgang Held, frei nach dem Motto: „Wenn jemand mehr über den Turm weiß, dann er.“ Unsere Anfrage weckt in dem Polizisten dann zusätzlichen kommissarischen Spürsinn. Er war schließlich davon ausgegangen, dass es sich um städtisches Eigentum handelt, hatte nie genaues über den Turm erfahren. „Jetzt wo er uns gehört, möchten wir auch wissen, was es mit dem Turm auf sich hat“, sagt er schmunzelnd.

Also nimmt er die „Ermittlung“ auf: Rund 15 Schlüssel, die er im Polizeigebäude findet, testet er an der hölzernen Tür. „Alle haben gepasst, aber keiner ließ sich drehen.“ Auch er telefoniert mit der Denkmalschutzbehörde, der Stadtverwaltung und mit Vermögen und Bau. Doch auch das fördert keine neuen Ergebnisse zu Tage. Sondern vor allem die Tatsache, dass weder auf den Ämtern, bei der Polizei, noch bei der Stadt ein Schlüssel vorhanden ist. „Wir wissen jetzt zumindest, dass wir nichts wissen“, sagt Held lachend. Die Beteiligten vermuten sogar, dass seit mehr als 25 Jahren niemand mehr einen Fuß in den Turm gesetzt hat. Ein Turm im Dornröschenschlaf.

Ausgerechnet in diesen Tagen ändert sich im Amt für Vermögen und Bau die Zuständigkeit für Marbach. Mit seinem neuen Kollegen möchte sich Wolfgang Held dann zu Beginn des neuen Jahres treffen. „Wir werden eine Lösung suchen und Schlüssel für den Turm anfertigen lassen. Schließlich haben wir auch eine Verkehrssicherungspflicht. Sollte stimmen, dass seit mehr als 25 Jahren niemand im Turm gewesen ist, lässt sich dieser sonst bald durch den Dachstuhl betreten.“ Und so wird der Dornröschenschlaf wohl ein Ende finden – und ein lang gehütetes Geheimnis doch noch gelüftet werden.