Diese Weisheit gab mir die Grundschullehrerin mit auf den Weg. Foto: Julia Amrhein

Ehrlichkeit hat auch und gerade in Zeiten von Fake News noch ihren Platz – zum Glück.

Marbach - Wie heißt es doch so schön: „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss seh’n, was übrig bleibt.“ So ähnlich ging es auch mir bei der Verteilung der Themen für unsere Jubiläumsserie „175 Jahre Wertewandel“. Als ich aus dem Urlaub zurückkam, hatten die meisten Kollegen schon gewählt, worüber sie schreiben wollten, und es waren nur noch drei Werte übrig: Sicherheit, Heimatverbundenheit, Ehrlichkeit. Werte, die mir zwar alle etwas bedeuten. Aber verband ich mit einem davon auch ein besonderes Erlebnis im Zusammenhang mit meiner Arbeit für die Marbacher Zeitung?

Lange wollte mir nichts einfallen. Doch dann, als ich durch eine Liste meiner Texte scrollte, kam die Erkenntnis. Natürlich – da gab es etwas, das mich ziemlich beeindruckt hat. Es waren sogar gleich drei Termine, und es ging ein Stück weit um dasselbe Thema: Ehrlichkeit. Was sie für den Einzelnen bedeutet und wie sie wirkt. Und auf einmal schien es, als ob genau dieses Thema nur auf mich gewartet hätte. Aber der Reihe nach.

Nummer eins der genannten Termine war ein Vortrag zum Missbrauch in der katholischen Kirche. Das Thema: „Verschwiegene Wunden – Die katholische Kirche und ihr problematischer Umgang mit der Sexualität.“ Allzu viel Erhellendes habe ich davon ehrlich gesagt nicht erwartet. Denn man ist ja seit Jahren leider daran gewöhnt, dass bei diesem Thema lieber vertuscht wird, als dass die Dinge ehrlich und offen angesprochen werden.

Doch schon nach wenigen Minuten habe ich gemerkt, dass Wunibald Müller, der Referent, den die katholische Kirchengemeinde Zur Heiligen Familie eingeladen hatte, ganz anders gestrickt war. Er beschönigte nichts. Er legte ohne zu zögern den Finger in die Wunde. Das tat er aber nicht aus Selbstzweck. Vielmehr betonte er, wie wichtig Ehrlichkeit auch und gerade bei diesem heiklen Thema sei.

Ohne diese Ehrlichkeit und Offenheit könne es keine Reinigung und keine Veränderung geben, so die Quintessenz des Theologen, der zugleich Psychotherapeut und damit auch von dieser Seite her mit der menschlichen Seele vertraut ist. Bei einer ehrlichen Auseinandersetzung und Reformwillen dagegen habe die katholische Kirche die Chance, sogar mehr als bisher ein spiritueller Ort für die Menschen zu sein. Eine starke Aussage zum Thema Ehrlichkeit und dem, was sie bewirken kann.

Szenenwechsel, etwa ein halbes Jahr früher: Da war ich auf einem Termin in der Ludwig-Hofacker-Kirche in Rielingshausen. Doro Zachmann und ihr Sohn Jonas, der mit dem Down-Syndrom zur Welt kam, lasen aus ihrem gemeinsam verfassten Buch. Und vor allem der junge Mann zog die Besucher und auch mich in seinen Bann – unter anderem wegen seiner direkten, unverfälschten Art und seiner Ehrlichkeit. Jonas lebe völlig „maskenfrei“; mit anderen Worten: Man wisse immer, woran man mit ihm sei, und das gelte im Positiven wie im Negativen, sagte seine Mutter. Und erklärte: „Er zeigt meinem Mann und mir, worauf es im Leben wirklich ankommt.“

Kommt es im Leben also auf Ehrlichkeit an? Ich meine, ja. Zwar sind sich Psychologen einig, dass oft auch unbewusst gelogen wird. Und dass manche, oft als weiße Lügen bezeichnete Unwahrheiten als „Schmiermittel“ des menschlichen Miteinanders dienen und deshalb sogar unverzichtbar sind. Dann nämlich, wenn Ehrlichkeit verletzen würde, ohne auf der anderen Seite einen echten Nutzen zu haben.

Muss ich etwa der besten Freundin unbedingt sagen, dass ihr das neue, teure Kleid überhaupt nicht steht, obwohl sie es doch so schick findet? Zumal das ja auch nur meine ganz persönliche Meinung ist und jemand anderes ebenso begeistert sein kann wie sie selbst? In solchen Fällen sage ich dann lieber gar nichts oder lobe, wenn ich direkt gefragt werde, ausweichend die schöne Farbe oder das tolle Material.

Situationen wie diese sind es wohl auch, die Doro Zachmann gemeint hat, als sie vom Positiven, aber auch vom Negativen der Unverblümtheit ihres Sohnes sprach. Denn mit allzu viel Direktheit und Ehrlichkeit kann man sein Gegenüber auch vor den Kopf stoßen. „Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?“ lässt schon Goethe in seinem „Faust II“ Mephistopheles fragen, worauf Baccalaureus trocken entgegnet: „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.“

Ehrlichkeit kann aber nicht nur unhöflich und verletzend, sondern auch unbequem sein. Zum Beispiel dann, wenn man manche Dinge nicht hören oder lesen möchte, weil sie im Widerspruch zur eigenen Meinung stehen. Und so mancher ruft dann lieber lauthals „Lüge!“, als sich mit etwas so Unbequemem auseinanderzusetzen. Damit macht man es sich aber deutlich zu einfach.

Persönlich habe ich das bei meiner Arbeit erlebt, als ich im Spätsommer auf einem Treffen der Marbacher Querdenken-Bewegung war. Ich hatte im Anschluss mit einigen Besuchern der Veranstaltung gesprochen und sie nach ihren Eindrücken und dem Grund ihres Kommens gefragt. Eine Gesprächspartnerin schloss daraufhin ein Probeabo für die Marbacher Zeitung ab. Einige Tage später rief sie an und teilte mir mit, sie wolle unser „Lügenblatt“ nicht mehr haben. Als Grund nannte sie zum einen eine Kurzmeldung, in der wir die aktuellen Corona-Infektionszahlen des Gesundheitsamtes veröffentlicht hatten. Auch dass wir nicht nur von dem Querdenken-Treffen berichtet und dort gefallene Aussagen zitiert hatten, sondern diese in einem separaten Beitrag auch einem journalistischen Faktencheck unterworfen hatten, dem sie nicht standhielten, stieß offenbar auf Missfallen. So sehr, dass die Berichterstattung kurzerhand als „Lüge“ bezeichnet wurde. Doch Fakten lassen sich auch nicht mit solchen Pauschalurteilen totschlagen. Zum Glück.

Vergessen darf man beim Thema Ehrlichkeit aber auch nicht, dass nicht alles immer ganz eindeutig schwarz oder weiß, wahr oder unwahr ist. Vieles ist eine Frage des Blickwinkels und der Bewertung. „Es kann sein, dass nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren); aber in allem, was er sagt, muss er wahrhaft sein (er soll nicht täuschen).“ Diese Aussage Kants schrieb mir vor vielen Jahren meine Grundschullehrerin ins Poesiealbum. Als Zweitklässlerin habe ich die etwas sperrige und altmodische Formulierung noch nicht so recht begriffen. Doch ehrlich zu sein, war mir damals schon wichtig. Das habe ich wohl aus meinem Elternhaus so mitbekommen.

Wer ehrlich ist, nimmt zwar manchen Nachteil in Kauf oder verzichtet, anders herum betrachtet, darauf, sich – meist auf Kosten anderer – einen Vorteil zu verschaffen. Es gibt Witzbolde, die, nicht ganz grundlos, das Sprichwort „Ehrlich währt am längsten“ durch den Halbsatz „ . . . bis man zu was kommt“ ergänzen. Aber dafür hat man mit Ehrlichkeit aus meiner Sicht etwas unschätzbar Wertvolles gewonnen: Man kann ruhigen Gewissens in den Spiegel sehen.

Vielleicht habe ich auch deshalb einen Beruf ergriffen, in dem man der Wahrheit durch gründliche Recherche auf den Grund geht. In dem man es gewohnt ist, Aussagen erst einmal zu hinterfragen, verschiedene Positionen zu hören, Fakten zu checken und einzuordnen. Denn genau das macht man als Journalist, wenn man seine Arbeit ernst nimmt. Manchmal führt das in eine unerwartete Richtung, und Annahmen erweisen sich als falsch, sodass letzten Endes etwas ganz anderes herauskommt. Dann ist das eben so. Wichtig ist allein, dass das, was man schreibt, fundiert ist. Auch das gehört zur Ehrlichkeit. Journalisten sind Menschen und kommen bei ihren Recherchen und Einordnungen manchmal zu unterschiedlichen Ergebnissen. Deshalb haben wir glücklicherweise eine vielfältige Presselandschaft. Journalisten können natürlich auch trotz aller Sorgfalt hin und wieder einen Fehler machen. Und schließlich gibt es leider auch manchmal ein schwarzes Schaf, das sich nicht an sein Berufsethos hält und sorgfältige Recherche durch blühende Fantasie ersetzt.

Doch ich persönlich habe es in meinen mittlerweile rund 30 Berufsjahren noch nicht erlebt, dass einer meiner Kollegen bewusst etwas verschleiert oder gar gelogen hätte. Schon gar nicht bei einer Lokalzeitung wie der Marbacher Zeitung, wo man sich in einem überschaubaren Umfeld bewegt und Vertrauen eine wichtige Rolle spielt. Vertrauen gibt es aber nur dort, wo man merkt, dass das Gegenüber ehrlich ist. In einer Branche, die von Unehrlichkeit geprägt ist, könnte und wollte ich jedenfalls nicht arbeiten.

Zur Person
Sabine Armbruster hat nach einem Studium der Anglistik und Germanistik ihre journalistische Laufbahn bei zwei technischen Fachzeitschriften begonnen. Acht Jahre später wechselte sie die Seiten und informierte nun die Journalisten – als Pressesprecherin und Kommunikationsleiterin einer großen Messegesellschaft und als Öffentlichkeitsarbeiterin für einen Imkereiverband. 2014 zog es sie wieder zu den journalistischen Wurzeln zurück. Seitdem schreibt die Ludwigsburgerin für die Marbacher Zeitung, zunächst als freie Mitarbeiterin, seit 2018 als Lokalredakteurin. Unterstützt wird sie dabei von ihrem Beagle Rufus, der zum Redaktionshund avanciert ist.