„Machste mal wieder vier Wochen Schule“, dachte sich Rita Mühlemeier. Foto:  

Die pensionierte Lehrerin Rita Mühlemeier unterrichtet ein paar Wochen lang Schaustellerkinder in der Wasenschule.

Bad Cannstatt/Erdmannhausen - Morgens um 9 Uhr ist es auf dem Cannstatter Wasen sehr ruhig. Nur wenige Stunden, nachdem Zigtausende von Besuchern mehr oder weniger angeheitert den Heimweg angetreten haben, wirkt der Platz des Cannstatter Volksfestes fast wie ausgestorben. Frisch geputzt, bei noch tiefstehender Sonne, warten die Buden auf ihre tägliche Eröffnung und alle darin auf den erneuten Besucheransturm.

Ganz hinten, zwischen Krämermarkt und Stadtbahnhaltestelle, erschallt um diese Uhrzeit zum zweiten Mal an diesem Tag ein Glöckchen. Es ist Pause in der Wasenschule. Die 22 Kinder und ihre Betreuer gehen nach draußen und schnappen ein wenig frische Luft. Seit 8 Uhr und noch bis 10 werden in dem Raum hinter der Tür in der graffitibesprühten Mauer „die Großen“ unterrichtet. Zwischen 10 und 12 Uhr sind die Grundschüler dran. Die Lehrer in der Wasenschule sind großteils Freiwillige, unter ihnen einige Studenten der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, Senioren oder pensionierte Lehrer, die hier vier bis fünf Wochen Unterricht für die Schausteller-Kinder geben.

Eine davon ist Rita Mühlemeier aus Erdmannhausen. Sie wohnt derzeit sogar mit ihrem Mann in Bad Cannstatt – in einem Wohnwagen, den sie im früheren Reitstadion aufgestellt haben. „Das ist sehr praktisch“, berichtet sie lachend. „Da können wir abends auf dem Volksfest ein Bier trinken und müssen nicht mehr nach Hause fahren.“

Tatsächlich genießt Rita Mühlemeier die Zeit auf dem Wasen, wenn auch der temporäre Umzug dorthin einen anderen Grund hat: „Ich möchte nicht jeden Morgen von Erdmannhausen nach Bad Cannstatt fahren“, sagt die pensionierte Lehrerin. Diesen Weg nimmt nun ihr Mann auf sich. Er fährt morgens vom Wasen aus nach Erdmannhausen zur Arbeit.

Rita Mühlemeier genießt aber nicht nur die Zeit auf dem Volksfest an sich, sondern auch die Vormittage in der Wasenschule. Mit Rudi aus der fünften Klasse und Lisa aus der achten Klasse lernt sie an diesem Morgen Mathe. Später wird sie sich um einen Erstklässler kümmern.

Die Schausteller-Kinder kommen in Stuttgart seit 2015 in den Genuss der Wasenschule. Zuvor waren sie – wie in den anderen Orten auch – auf verschiedene Schulen verteilt. Was nicht einfach ist für die Jungen und Mädchen, „deshalb haben wir überlegt, wie man den Schulbesuch effektiver gestalten kann“, erklärt Michael Widmann. Er ist Bereichslehrkraft für Kinder und Jugendliche von beruflich Reisenden und kam auf die Idee, die Wasenschule mit Bildungspaten ins Leben zu rufen. So steht nun jedem Schüler auch ein Lehrer zur Seite, der ihn in seinem individuellen Lernplan unterstützt. Das Spannende dabei: Die Schüler kommen nicht nur aus allen Klassenstufen und sind zwischen sechs und 17 Jahren alt, sie kommen auch aus allen Schularten und allen Bundesländern, sie haben also ganz verschiedene Lernpläne.

Den Schaustellern auf dem Wasen gefällt das Angebot für ihren Nachwuchs jedenfalls. Inzwischen wurde schon die Frage laut, warum es eine solche Schule nicht auch zum Beispiel in München gibt, berichtet Michael Widmann. Die Eltern greifen den Machern der kleinen Schule auch unter die Arme, wo sie können. So haben sie den Unterrichtsraum hinter der Tür in der Mauer – früher hatte die Feuerwehr hier einen Schulungsraum – mit einem neuen Boden ausgestattet. Außerdem sind die Lehrer jeden Mittag zum Essen eingeladen, beispielsweise im Wasenwirt- oder Göckelesmaier-Zelt.

Aber bis zur Mittagspause heißt es erst einmal weiter büffeln. Die Atmosphäre im Klassenzimmer ist konzentriert, Rita Mühlemeier hat dennoch immer ein Auge auf ihren Schützling, der gerade ein wenig über seinen Mathe-Aufgaben mault. Fünf Wochen können die Schüler hier maximal diesen für sie relativ geregelten Schulalltag genießen: Während der zwei Wochen Aufbau zum Volksfest tröpfeln die ersten Jungs und Mädchen herein, momentan ist Vollbetrieb. Beim Abbau, der bis zu einer Woche dauert, verabschieden sich jeden Tag mehr Kinder. Bis zum Frühlingsfest auf dem Cannstatter Wasen. Rita Mühlemeier will dann auch wieder mit dabei sein.