Dorfstraße in Tarutino, unweit des Hotels Foto: privat

Laura Buschhaus ist mit ihrer Verwandtschaft in das frühere Bessarabien gefahren, das heute zur Ukraine und zu Moldawien gehört.

Jede Generation und jeder Mensch hat seine Geschichte. Die einen reden mehr davon, die anderen weniger. Meine Großeltern mütterlicherseits gehören eindeutig zu ersterer Sorte und so konnten ich und ihre anderen Enkel schon von Klein auf erfahren, wie die beiden in Bessarabien (heute Ukraine und Moldawien) aufgewachsen sind. In den Geschichten nahm mein Großvater strahlend sein erstes Fahrrad in Empfang, durfte meine Großmutter nicht mit ans Schwarze Meer, weil sie den Eltern zu zappelig war und meine Ururgroßmutter servierte schwarzen Tee mit Kirschen. Bessarabien und die Kindheit meiner Großeltern in diesem Landstrich leuchteten in ihren Erzählungen auf wie ein fernes, verlorenes Paradies (während des Zweiten Weltkrieges waren sie ins Schwabenland umgesiedelt worden). Sonderbar erschien mir ihre Begeisterung, immerhin hatten die Kinder oft auf dem Feld oder im Haushalt mitgearbeitet und lange Wege bis zur Schule zurückgelegt.

Ein paar Mal waren meine Großeltern nach dem Fall der Mauer wieder in ihrer Heimat. Im Mai 2010 war es dann für mich und meinen wenig älteren Cousin so weit: Wir wurden gefragt, ob wir die Familie nicht auf den Trip begleiten wollten. Ich war mir nicht sicher, ob ich wollte, ließ mich dann aber überzeugen.

Viele Erinnerungen habe ich an diese Reise, aber was sich am meisten in meinen Kopf eingeprägt hat, ist das Warten und der Wodka.

Zum ersteren: Unsere Reise hatten wir über einen Veranstalter gebucht, der uns einen Flug von Düsseldorf nach Bukarest reserviert hatte. So weit so gut. Nur war uns allen nicht bewusst, dass zwischen der rumänischen Hauptstadt und unserem Hotel in Tarutino über 400 Kilometer lagen. Also über zehn Stunden Fahrt. Und so rumpelten meine Großeltern, meine Mutter, der Neffe meines Großvaters, mein Cousin, die rumänische Reiseleiterin und ich stundenlang von Schlagloch zu Schlagloch und von Schotterpiste zu Schotterpiste. Es gab auch asphaltierte Straßen, doch in meiner Erinnerung sind vor allem das ewige Schaukeln des Busses und das Warten auf das Ziel hängengeblieben. Verwöhnt von bisherigen Pauschalreisen, wartete ich am Anfang auch noch auf eine Trink- und Essenspause, vorzugsweise mit kalten Getränken. Doch daraus wurde nichts. Unsere beiden Fahrer hatten keine Verpflegung dabei und mit Euro konnten wir in den Lädchen am Straßenrand nicht bezahlen. Erst als der Neffe einen 10 Euro-Schein auf den Tresen einer kleinen Bar knallte und mit Händen und Füßen klarmachte, dass er sich davon nur ein Bier nehmen würde, hatte wenigstens einer von uns etwas zu trinken. Dann endlich: Der erste Grenzübergang und zwar von Rumänien nach Moldawien. Und nun begann das eigentliche Warten. Weder bei dieser Grenze noch bei der Grenze zwischen Moldawien und der Ukraine noch bei den Grenzübertritten auf dem Rückweg in umgekehrter Reihenfolge warteten nennenswert viele andere Fahrzeuge. Und doch dauerte es oft mehrere Stunden, bis unser Kleinbus weiterfahren durfte. Einmal musste jeder von uns ein Formular ausfüllen, dass uns nach einer Stunde wiedergebracht wurde, weil wir irgendetwas falsch eingetragen hatten. Ein anderes Mal wurde der Neffe mit in das Wachhäuschen genommen, weil er ins Gebüsch gepinkelt hatte, ein anderes Mal sammelte unser Fahrer „Trinkgeld“ für die Grenzposten ein, um sie milde zu stimmen. An einer Grenze filzten Spürhunde unseren Wagen. Zum Glück waren wir zu entkräftet, um Angst vor ihnen zu haben.

Natürlich bestand unsere Reise auch noch aus anderen Erlebnissen, zum Beispiel Wodkatrinken. Auf den muss keiner lange warten. Sobald wir uns im Hotel zum Mittag- oder Abendessen setzten, eilten die zuvorkommenden Bediensteten an, sehr oft auch der Hausherr, und füllten uns die Saftgläser mit Wodka auf. Da der Wodkaverbrauch naturgemäß sehr hoch war, wurde er gar nicht erst in Flaschen aufgetischt sondern in großen Kanistern. Das waren auch die einzigen Tage in meinem Leben, an denen ich meine Großmutter Schnaps trinken gesehen habe. Natürlich nur, „um die Bakterien abzutöten“.

Von unserem Hotel in Tarutino in der südlichen Ukraine besuchten wir in den acht Tagen die Region: den Nullpunkt der Donau, die Festung Akkermann, das Museumsdorf Frumuschika und das Schwarze Meer. Wir begegneten sehr herzlichen und gastfreundlichen Menschen, durften in die Geburtshäuser meiner Großeltern hineingehen und lernten die zauberhafte Landschaft kennen. Auch wenn wir Jungen uns das Leben dort zu keiner Zeit hätten vorstellen können, so verstehen wir nun besser, was meine Großeltern durch die Umsiedlung nach Deutschland verloren haben.

Was bleibt von der Reise? Vor allem die Erkenntnis, dass es wenig Wertvolleres gibt, als den Geschichten seiner Vorfahren zuzuhören – und dass es nicht schadet, sie ab und zu mit der Realität abzugleichen.

Mehr Infos über die Geschichte der Bessarabiendeutschen: www.bessarabien.de