Die Grünen begleiten die Bebauung an der Hindenburgstraße 13-19 kritisch. Foto: Oliver von Schaewen

Die Murrer Grünen sind vor zweieinhalb Jahren erstmals in den Gemeinderat gewählt worden. Im Interview ziehen Ellen Mohr-Essig und Tayfun Tok eine Halbzeitbilanz.

Murr - Grüne im Gemeinderat – das kann, muss aber nicht dogmatisch ablaufen. Die Murrer Grünen Ellen Mohr-Essig und Tayfun Tok berichten über ihre Versuche, eine umweltfreundliche Politik in ihrer Gemeinde anzuwenden.

Welches Fazit ziehen Sie nach zweieinhalb Jahren im Gemeinderat?
Mohr-Essig: Ich finde, wir sind gut etabliert und gehören dazu. Am Anfang habe ich eine gewisse Vorsicht wegen unserer Couleur gespürt, aber wir sind dann ganz herzlich aufgenommen worden. Die Kollegen wissen mittlerweile auch, dass wir mit ihnen sachdienlich Entscheidungen treffen.
Tok: Für mich war der Gemeinderat am Anfang eine Art Blackbox. Wir hatten ja nie ein politisches Amt. Als junger Gemeinderat überlegt man sich, ob die Ideen ankommen, die man vorbringt – ich hatte aber den Eindruck, es gab eine gewisse Offenheit auch gegenüber neuen Ideen und Themen. Mein Fazit lautet also: Wir sind angekommen und haben frischen, grünen Wind in den Gemeinderat gebracht.
Welche Ideen konnten Sie denn einbringen im Gemeinderat, der allein durch seine Sitzordnung fast schon fraktionslos wirkt?
Mohr-Essig: Es war wichtig, dass unsere Kernthematik Ökologie und Umweltschutz umgesetzt wird. In einer kleinen Kommune kann man natürlich nicht den großen Wurf landen. Das Wichtigste war, erst einmal einen Ansatz zu finden. Ein Einstieg gelang uns durch den Antrag für den Haushalt 2015, gemeindeeigene Gebäude mit Fotovoltaik-Anlagen zu bestücken. Die Energiewende soll gelingen, und da müssen wir auch im eigenen Ort etwas tun. Am Kinderhaus haben wir im vorigen Sommer die erste Anlage in Betrieb genommen, die zweite kommt auf den Neubau nebenan.
Gibt es weitere ökologische Ideen außer der Fotovoltaik-Anlage?
Mohr-Essig: Der nächste Antrag, gestellt im November 2016, ist die Fortführung des ersten, jedoch diesmal gekoppelt mit einer Ladestation für Elektrofahrzeuge am Rathaus mit direkter Einspeisung durch eine Fotovoltaik-Anlage auf dem westlichen Rathausdach. Im Haushaltsplan 2017 sind hierfür Gelder vorgesehen.
Tok: Das Thema E-Ladestation ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir als Grüne große Ideen aufs Konkrete herunterbrechen wollen. Das ist für uns unmittelbar erlebbare Demokratie. Uns ist wichtig, unabhängig von Verbrennungsmotoren eine Möglichkeit zu geben, eine gewisse Struktur aufzubauen. Auch wenn es in der Gemeinde nur ein kleines Symbol ist, können wir als Kommune Trendsetter sein. Wir bieten es als Infrastruktur an, wissen, dass wir damit nicht die Welt retten, aber gehen damit voran.
Gab es auch Öko-Ideen, die nicht so gut ankamen?
Tok: Ja. Ein Negativ-Beispiel war die Murr-Renaturierung, die wir vorgeschlagen haben. Das wollten wir mit den anderen Räten besprechen, sind aber auch an unsere Grenzen gestoßen. Ich habe da dazugelernt: Nicht jede Idee wird auch umgesetzt.
Da kam aber auch nie ein Antrag von Ihnen im Gemeinderat . . .
Mohr-Essig: Es gibt natürlich auch hinter den Kulissen Plattformen. Wir hatten eine sehr konstruktive Klausurtagung, in der Ideen gesammelt wurden. Von der Region gab es ja schon ein Konzept für die Renaturierung, welches wir Grünen aufgegriffen hatten. Das Murrufer sollte für uns Murrer ein zusätzlicher attraktiver Freizeitraum werden. Die Mehrheit im Gemeinderat sah da keinen Bedarf. Man möchte die vorhandene Durchzugssituation nicht verändern. Das hat auch etwas mit dem dann anfallenden Müll und wer sich darum kümmert zu tun.
Tok: Es gehört eben zur Demokratie dazu, dass man an Grenzen stößt. Das haben wir erlebt, als wir gemerkt haben, dass andere Ebenen für Entscheidungen zuständig sind, die wir gerne getroffen hätten.
Mohr-Essig: Wir waren uns im Gemeinderat einig, dass die Tempo-30-Zone durch den ganzen Ort gehen sollte, aber das Landratsamt Ludwigsburg entschied anders und hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Wie schwer fällt es Ihnen, das Nein aus Ludwigsburg zu akzeptieren?
Mohr-Essig: Sehr schwer. Ich habe diesem Antrag auch nicht zugestimmt. Ich sehe mich mit einem solchen Abstimmungsverhalten manchmal allein auf weiter Flur. Aber ich muss bei manchen Themen lernen Geduld zu haben. Ich hoffe, dass sich da durch in der Landesregierung was tut.
Setzen Sie sich das Ziel, mehr Menschen in Murr weg vom Auto zu bringen, etwa indem Sie den ÖPNV verstärken wollen?
Tok: Mir ist immer wichtig, die Mobilität miteinander zu vernetzen. Dass man den Menschen verschiedene Möglichkeiten anbietet, zur Arbeit oder in die Freizeit zu gehen. Jugendliche oder junge Erwachsene wollen ja meistens abends in die Stadt – da könnte man die Taktzeiten verstärken. Busse und Bahnen könnten auch um 3 oder 4 Uhr nachts mehr fahren. Man sollte das Automobil aber nicht verteufeln – wir wissen, der Verbrennungsmotor hat keine Zukunft. Stuttgart, München oder Ingolstadt sollen nicht das nächste Detroit werden, wir müssen Fahrzeuge mit neuen Konzepten attraktiv halten.
Welche Chance geben Sie der Stadtbahn durch das Bottwartal? Der Regionalplan erkennt eine dringliche Bedeutung, Ihr Bürgermeister hält das Projekt für derzeit nicht machbar. Hat er Recht?
Mohr-Essig: Es ist alles machbar. Wir Grünen haben schon immer für einen besseren ÖPNV gekämpft. Wir sind damals (OV Bottwartal/Die Grünen) beim Bau der Umgehungsstraße für Murr sang- und klanglos untergegangen. Die Autoindustrie hatte sich durchgesetzt. Der Interessenskonflikt ging zu Ungunsten von Bahn und Bus aus. Das heutige Szenario mit Verkehrsinfarkt in den Hauptpendelzeiten an der Bergkelterkreuzung mit Lärm und Abgasen hatten wir vorausgesagt. Unseren Bürgermeister Torsten Bartzsch hatte ich so verstanden, dass die Chancen für die Bottwartalbahn derzeit gegen null tendierten. Auch die Nähe der Trasse zu den Häusern hat er genannt. Da setze ich auf die heutige Technik der Stadtbahn. Dieser Lärm hat sich stark reduziert und Lärmschutzwälle sind zusätzlich eine gute Option.
Wie realistisch ist das wirklich?
Mohr-Essig: Am Beispiel des Atomausstiegs gesehen, ist fast alles möglich. Es gibt jetzt kein Zurück mehr aus der Energiewende – deshalb sind wir auch in der Verantwortung, uns jetzt um alternative Energiekonzepte zu kümmern. Beim Verkehr muss man noch einmal das gesamte Konzept anschauen und in Betracht ziehen. Von Marbach aus hat man mit der S4 nach Backnang eine Querverbindung. Das ist super und bringt eine Entlastung für die Menschen. Die Reaktivierung der Bottwartalbahn ist eine Zukunftsinvestition.
Tok: Ich würde nie etwas kategorisch ablehnen. Eher sauber prüfen. Zum Beispiel, ob der Kosten-Nutzen-Faktor passt. Und nach der sauberen Recherche ein Angebot einholen und fragen, zu welchen Konditionen es machbar wäre.
Ist es nicht auch eine Finanzierungsfrage: Murr hat Geld, Oberstenfeld zum Beispiel nicht – sollte man da nicht über neue Regelungen nachdenken, die Kommunen zu entlasten?
Mohr-Essig: Das sollte man unbedingt prüfen.
Tok: Den Nutzen hat ja nicht nur eine Gemeinde. Wir haben alle ein Interesse daran, dass das Bottwartal interessant bleibt: für Pendler, für die Bevölkerung. Stichwort demografischer Wandel: Nicht jede ältere Person wird später ein Auto fahren. Die Zeiten ändern sich. Wir müssen da an einem Strang ziehen. Davon hat ja auch der gesamte Landkreis etwas und auch der benachbarte in Heilbronn, wenn eine Verbindung zustande kommt.
Ein großes Gewerbegebiet für das Bottwartal an der Autobahn ist früher in Murr/Pleidelsheim angedacht gewesen, dann ist es am Holzweilerhof gescheitert. Braucht das Bottwartal ein solches Areal?
Mohr-Essig: Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir an die A81 angebunden sind und dadurch ein attraktives Industriegebiet haben. Das ist mit der Hauptgrund, dass Murr eine gesunde Kommune ist. Eine kluge Wirtschaftspolitik in der Ära Hollenbach liegt dem zugrunde. Murr hat auch ressourcenschonend verwaltet, da haben Nachbarkommunen anders gewirtschaftet, etwa mit einem ganz anderen Ansatz von Verwaltungsstrukturen. So können wir jetzt aus der Vergangenheit schöpfen und uns etwa ein neues Jugendhaus leisten.
Braucht es das große Gewerbegebiet, wenn man interkommunal denkt?
Tok: In der Tat: Uns geht es gut, wir haben Rücklagen von über 30 Millionen Euro. Unserer Kämmerer Albrecht Keppler steht persönlich für das solide Wirtschaften. Wir sind auch stolz darauf, dass wir so viele gut geführte Unternehmen haben. Meiner Meinung nach ist das aber kein Zukunftssignal, wenn man ein großes, neues Gebiet entwickeln würde. Die Zukunft wird anders aussehen. Wir werden nicht mehr große Firmen mit hohen und umfangreichen Gebäuden brauchen. Es geht eher in Richtung Start-ups: kleine Unternehmen. Wir werden die Wirtschaftskraft nur halten, wenn wir innovativ sind und wir innovative Firmen fördern. Ihnen sollten wir Räume bereitstellen, in alten brachliegenden Gebäuden. Wir könnten auch die Mieten von kommunalen Gebäuden dafür entsprechend herabsetzen.
Apropos Städtebau – die Gemeinde bemüht sich darum, innen viel zu tun: An der Hindenburgstraße sieht man das besonders. Dazu wird das Neubaugebiet Langes Feld entwickelt. Empfinden Sie die Mischung als stimmig?
Mohr-Essig: Ja! Das Neubaugebiet im Langen Feld ist aus heutiger Sicht das letzte, das Murr anbieten kann – hart umkämpfte 28 Bauplätze. Es ist wichtig, dass man jungen Murrer Familien attraktive und bezahlbare Bauplätze für Einfamilienhäuser/Doppelhäuser anbieten konnte um sie an Murr zu binden. Stichwort demografischer Wandel. Auf der anderen Seite ist die Verdichtung gefragt. Das Thürrauch-Areal – ein Fabrikgelände mitten im Ort – mit Hilfe eines Investors neu zu gestalten, ist eine Chance und Garant, innerorts attraktiv zu bleiben. Der Gemeinderat hat hier den Bebauungsplan aktiv mitgestaltet. Die Verwaltung ist da allgemein sehr bemüht, innerorts Bestand aufzutun, um in der Zukunft innerorts Wohnraum zu schaffen. Das entspricht der Grünen-Vorstellung, nachhaltig zu denken. Das gesamte Konzept muss halt stimmig sein, dazu gehören neben attraktiven Wohnungen beruhigte Straßen mit weniger Lärm, zum Beispiel durch mehr E-Mobilität und eine maximal ausgedehnte 30er-Zone.
Wie wichtig ist Ihnen als Architektin, Frau Mohr-Essig, eine nachhaltige städtebauliche Ansicht?
Mohr-Essig: Sehr! Da sieht man besonders am Areal Hindenburgstraße 13-19, wo wir jetzt in Leichtbauweise drei Module errichten. Es ist schade, dass wir da nicht auf lange Sicht ein städtebauliches Konzept in Massivbauweise mit sozialem Wohnungsraum entwickelt haben. Eine Entscheidung, die die damalige Panik mit stetig ansteigenden Asylbewerberzahlen widerspiegelt. Architektonisch sind die Module überhaupt nicht schlecht. Die städtebauliche Lücke in der Hindenburgstraße aber wird bleiben wie auch die Assoziierung der Module mit Asylunterkünften.
Tok: Ich möchte von einer anderen Seite an das Problem herangehen. Ich bin wirklich sehr stolz auf die Murrer Bürger, dass sie mit einer gewissen pragmatischen Gelassenheit auf die Flüchtlinge reagiert haben. Im Großen und Ganzen lief das gut ab. Ich möchte dem Arbeitskreis Asyl ein großes Lob aussprechen, auch weil ich als Kind türkischer Großeltern weiß, wie wichtig es ist, gut aufgenommen zu werden, um den Geflüchteten das Gefühlt zu geben dazuzugehören. An der Hindenburstraße sehe ich es als wichtig an, dass Wohnraum für unsere geflüchteten Mitbürger geschaffen wird. Auf der anderen Seite finde ich es städtebaulich schade, dass man nicht Massivbau macht und es schöner gestaltet, da die Hindenburgstraße unsere Hauptschlagader ist. Da wäre es schön gewesen, architektonisch etwas Pfiffigeres auf die Beine zu stellen.
Kleiner Schlenker: Die Mehrheit der Murrer scheint mit dem Namen Hindenburgstraße einverstanden. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Mohr-Essig: Ich wohne seit 27 Jahren dort und habe mich mit dem Namen arrangiert. Gefallen hat er mir nie.
Tok: Es gibt Sachen, die viel wichtigere Themen für die Murrer sind. Da möchte ich kein neues Fass aufmachen.
Wichtiger dürfte Jüngeren die Ansiedlung eines Burger King neben dem Mc Donald’s sein. Wie denken Sie als Grüne darüber?
Tok: Am Anfang habe ich mich auch gefreut, dass es einen Mc Donald’s gibt. Ich gehe aber jetzt nicht mehr so oft hin. Eine gesunde Ernährung ist wichtig für die Lebensqualität. Jeder muss das selbst entscheiden. Ich sehe das gelassen.
Und die Müllproblematik?
Tok: Das fällt mir als Anwohner auch auf. Dafür habe ich aber kein Patentrezept.
Mohr-Essig: Das Klientel besteht aus vielen Auswärtigen, die von der Autobahn herunterkommen, etwas essen und den Abfall wegwerfen, was sie voraussichtlich vor ihrer eigene Haustüre nicht tun würden. Mc Donald’s selbst ist da bemüht, den Müll, so gut es geht, zu entsorgen. Ich finde es super, dass wir in Murr so viele ökologische Einkaufsmöglichkeiten vom Direkterzeuger haben, welche die Bevölkerung auch rege nutz. Ein wichtiger Gegenpol und eine gute Mischung zum Discounter und den Fast-Food-Ketten.
Noch ein Wort zum neuen Jugendhaus. Wie sehen Sie die Investition?
Tok: Ich war selbst regelmäßig im Jugendhaus. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, es neu zu bauen. Es ist wichtig, das Haus mit pädagogischen Konzepten zu füllen. Das Jugendhaus sollte mit Vereinen, Organisationen und Kirchen vernetzt sein, dann können sich die Jugendlichen weiterentwickeln und sind nicht isoliert.
Mohr-Essig: Das neue Jugendhaus ist im Wasserschutzgebiet und damit von der Lage sehr kritisch. Da gibt es unter anderem den Eisvogel. Es schwelt die Sorge, dass ins Öko-System zu stark eingegriffen wird. Auch die Parkplatz-Situation wird heikel. Da gibt es ordentlich Aufgaben, die es zu lösen gilt. Mein Interesse besteht vor allem auch darin, dass das neue Gebäude sich in Umwelt und Umgebung gut einfügt.
Was nehmen Sie sich für die nächsten 2,5 Jahre im Gemeinderat vor?
Tok: Wir haben noch einige Ideen, auch gab es Sorgen in der Bevölkerung. Wir haben gehört, dass die Gestaltung des Dorfplatzes noch verbessert werden könnte. Die Aufenthaltsqualität dort lässt noch zu wünschen übrig. Es gibt zu wenig Grün . . .
Mohr-Essig: Die Neugestaltung der Ortsdurchfahrt mit den Parkbuchten liegt mir sehr am Herzen. Die Resonanz in der Bevölkerung ist da sehr negativ. Auch die Sanierung des Alten Rathauses mit dem gegenüberliegenden Parkplatz ist mir ein Anliegen. Die gelungene Platzgestaltung am alten Schulhaus/Kirche zeigt, dass es sich lohnt, da zu investieren. Außerdem werden uns energetische Fragen weiterhin beschäftigen. Darauf möchte ich wachsam in den nächsten zwei Jahren mein grünes Auge richten.