Im Schlosskeller gab es beides – Musik und Kunst. Foto: Werner Kuhnle

1. Marbacher Nachtschicht Kunst
: Von Atelier zu Atelier gibt es viel zu sehen, zu schmecken und zu erleben.

Marbach - K

unst in allen Farben, Formen und Gattungen springt am Freitagabend jenen Besuchern der ersten Nachtschicht Kunst ins Auge, die sich im Innenstadtbereich mit dem Besucherfluss von einem Kunst-Ereignis zum nächsten tragen lassen. Bemerkenswert: Das Wetter scheint einer der wesentlichen Vertragspartner zu sein. Bis Mitternacht fällt kein einziger Tropfen und die durchaus angenehm temperierte Nacht suggeriert beinahe ein Gefühl von Sommernachtstraum. Die Fußgängerzone und die angrenzenden Standorte vermittelten mit der angebotenen „Route de Kunst“ einen Zustand der lebensfrohen Leichtigkeit: Fünf Stunden Kunst und Begegnung vom Feinsten. Und wie sich herausstellt, eine Zeitspanne, die nötig ist. Wer nämlich alle Standorte besuchen will, ohne in Hektik zu verfallen, hat das Zeitmaß mühelos gefüllt.

20 Uhr Mit dem Glockenschlag angekommen, wird der Gast zu dieser Stunde direkt vom Hausherrn und mit Handschlag empfangen. Flugs spülen einen die neugierig nach innen dringenden Besuchergrüppchen in die Räumlichkeiten des Privathauses, das so romantisch am Mühlweg gelegen ist. Innen ist es erkennbar ausgeräumt. Denn wo sich Kunst zahlreichen Besuchern präsentieren will, ist Platz vonnöten. Schreitende Damen ohne Kopf in einer als Federkleid anmutenden Ummäntelung, filigrane Lichtgestalten sowie tanzende, elfenhafte Gebilde in Weiß oder Schwarz, sind dort zu entdecken. Cäcilie Davidis ist im Nu umschart von fragenden und staunenden Gästen. Mit dem ihr eigenen Elan und einer ausgeprägten Liebe zum Himalaya-Papier, erklärt sie lebhaft das künstlerische Vorgehen und die verwendeten Materialen. Kohle, Ebenholz und Asche etwa, alles zu einer Pulpe, dem Papierbrei verarbeitet. Ehrfurcht macht sich breit und immer wieder Ausrufe des Entzückens sind in Haus Nummer 3 zu hören.

20.25 Uhr Sonnenstrahlen überall. Derzeit ungewohnt ist der Weg zur Kunst von Frank Lukas, weil von Sonnenschein begleitet. Vorher, im Hof, geht der Besucher am Kulinarik-Stand des Goldenen-Löwen-Wirtes vorbei, der Tramezzini im Angebot hat. Die typisch italienischen Dreieck-Weißbrote gibt es in drei Varianten. Eine davon ist mit Thunfisch, Erbsen und roten Zwiebeln belegt. Der Meister hat sich von einem Venedig-Trip dazu inspiriert gefühlt. Warum nicht? Da gibt’s auch viel schöne Kunst. Das Haus von Nicole Schmidt zwischen Marktstraße 50 und 56 bietet herrlich großzügigen Raum, wo sich die Frank-Lukas-Exponate homogen eingefügt haben. Auch hier spielen sonnige Lichtreflexe mit dem Auge: nicht nur im Freien, sondern mit den Bildern an der Wand. Auf einem langen Tisch liegen Karten mit den sogenannten „Kuliquarell“-Motiven aus. Besucher nehmen sie gerne zur Hand und schmunzeln hier und da. Ob der Texte oder der Bildaussage wegen, ist nicht geklärt. Zum Mitnahmepreis von einem Euro sind sie ein Andenken an den Abend und für jeden erschwinglich. Der Künstler selbst hat sich die passenden Worte dazu einfallen lassen. „Das Bild sagt mir den Text“.

20.45 Uhr Auf dem Weg zur Marktstraße 6 kommt man unweigerlich am LKW der Spedition Gruber vorbei. Der steht beim Marktbrunnen und erstrahlt zu dieser Zeit noch in Himmelblau. Selbst wer ihn zunächst übersehen hat, wird ihn entdecken: Denn die Sprühdosen stehen wie ein Waffenarsenal da und warten auf den Einsatz, der von der Nase nicht unbemerkt bleibt. Pite Schulz wird den LKW im Laufe des Abends gemeinsam mit Kollege Steffen Fuhrman, alias Jin Jin, in ein Kunstobjekt verwandelt haben.

20.50 Uhr Der Sänger und Gitarrist Andreas Delzemich steht mit dem Saxofonisten Joachim Keck zu dieser Zeit ebenfalls auf Höhe des Brunnens. Beide legen sie ihre Musikerseele in die Interpretation jazzig-bluesiger Nummern und wandeln lustvoll – von Szenerie zu Szenerie – weiter, um dem Abend ein genussvoll-leichtes Flair zu geben.

20.55 Uhr In Hörweite der Musik ist die Malerin Stephanie Gempe unter einem Vorbau der Marktstraße 16 noch nicht besonders stark umringt von Besuchern. Der weiße und der Roséwein stehen auch bei ihr schon bereit. Weil sich hier noch nichts drängt, ist der Weg zur Künstlerin frei und man kann ihr problemlos Fragen stellen. Zum Beispiel zu den kleinen abstrakten Kunstobjekten, die sie mitgebracht hat und die im Preis verhandelbar sind. „Unter Wert jedoch wird nichts verkauft“. Alle Motive sollen im Traum entstanden sein. „Ist das Acryl?“, fragt ein Gast und erhält ein bejahendes Nicken. Neugierig befragt, was die Malerin träumt, wenn das gestaltete Leinwandquadrat etwa rosa-pinkfarbene Schichten aufweist, die sich allmählich im Schwarz auflösen, erhält man die Antwort: „Nichts sehr Schönes“.

21.10 Uhr Der Duft von Pizzaschnecken verführt den Eintretenden gleich am Eingang des Schlosskellers und erinnert daran, dass der Parcours durch die außergewöhnliche Galerienvielfalt in die dritte Stunde geht. Als organisch aus dem Gemäuer des Gewölbekellers erwachsen, kann man die kleinen Porträts empfinden, die Jana Elzenbeck auf die rechte Seite gehängt hat. In dem Raum gibt’s nicht nur Elzenbeck-Kunst - optisch wie akustisch – zu erleben, sondern einen ganzen Elzenbeck-Clan: Bruder, Mutter, Vater, Tante . . .

Jana Elzenbeck zeigt Objekte mit dem Titel „Störgeräusche in der neuen Heimat“. Die Steinheimerin kam bei einem Spaziergang an den Murrinseln auf diese Idee. „Inmitten wunderschöner Natur störten mich die lauten, unpassenden Umwelt-Geräusche“ so die Malerin. Diesen Widerspruch hat sie akustisch-experimentell verarbeitet, was der Besucher obendrein als kunstvollen Mix von Industrielauten und Vogelgezwitscher zu hören bekommt.

Meist zur vollen Stunde schickt sich Bruder Stephen Elzenbeck an, seine akustisch einprägsame Kunstform, Elektrosound und Klangcollage, als Livekonzert der „Batterien Gottes“ vor einem dichten Publikum zu präsentieren. Spacy und ausdrucksstark umspülen die vielschichtigen Klanggebilde nicht nur die eigene Männerstimme, sondern auch die erotisch-dunkle Strahlkraft der Stimme Sarah Scholls. Kai Kellers Part als Visual-Jockey, der mit technisch raffinierten Visuals parallel dazu aufwartet, ist bei der Nachtschicht als weiterer signifikanter Kunstakt zu werten.

21.50 Uhr Raffiniert gewürzte Datteln mit einer Spur Schärfe regen in Marktstraße 5 den Kreislauf an und helfen, mit neuer Kraft die Nachtschicht zu überstehen – und den Blick zu schärfen. Dabei fallen interessante Dinge auf. Etwa, dass die Asche auf Gabi Buchs Kunstwerken wie „angerostet“ wirkt. Ein Effekt, den die Künstlerin im Gespräch gerne erklärt. Sie weist nämlich ihren Ehemann an, die Asche auf dem Grillrost über den Winter hinweg zu belassen. „Das gibt den Effekt, den ich mir wünsche“, erfahren die Umstehenden und können sich einen Raum weiter ein „bewusst erschwinglich gehaltenes Blatt Papier“ von der Leine pflücken. Die „kleinen Schätzchen“ sind Gemälde, die als „Von der Wand in die Hand“-Objekte, die Arbeit der Kinderhospiz-Dienste in Backnang und Ludwigsburg unterstützen sollen.

Helmut Grell ist ein Künstler-Schüler von Gabi Buch und gesellt sich mit seinen Werken dazu. Er berichtet bereitwillig und augenzwinkernd davon, wie er „des Nachts von Künstlern wie etwa Marylin Monroe besucht werde“. Diese bitte er dann, eines seiner Bilder zu unterschreiben. So also lassen sich die bemerkenswerten Signaturen in Grells Werken erklären . . .

„Chamuyando bajito“ ist ein dreiköpfiges Ensemble, das der Kunst von Gabi Buch und Helmut Grell musikalisch den i-Punkt aufsetzt. Charismatisch und mit dem wirkungsvollen Effekt, die Sätze in gebrochenem Deutsch zu sprechen, erzählt und singt der Sänger im Charme des Tangos.

22.20 Uhr Den Weg sich bahnend durch immer dichtere Menschentrauben, die teils fröhlich plaudernd und mit einem Getränk in der Hand im Freien stehen, geht es von Hausnummer 5 zur Wendelinskapelle. Hell erleuchtet lädt dort im Untergeschoss die Buchhandlung Taube ein, einzutreten. Der Gast kann sich die außergewöhnliche Haptik besonders schöner oder interessant gestalteter Bücher – mittels Streicheln über die Buchoberfläche – ertasten. Diese sind von der Stiftung Buchkunst prämiert.

Die gewundene Treppe nach oben steigend, geht es ins Reich von Monika Schreiber. Die Galeristin stellt ihren Raum den Kunstwerken von Beate Ludwig, Ingrid Kulf und Brigitte Nowatzke-Kraft zur Verfügung. Beate Ludwig verblüfft dabei mit einer gezielten Ansage die Betrachter ihrer Kunst: „Bitte anfassen!“ Die als Kommobs bezeichneten Objekte dürfen nämlich umgestaltet werden. Die drei Künstlerinnen sind begeistert davon, wie groß das Interesse der Besucher an dem Abend ist. Mitunter sind Gäste dabei, die den Wunsch äußern, dass die Nachtschicht sich nicht nur auf einen Tag beschränken solle. Brigitte Nowatzke-Kraft genießt die Möglichkeit, Künstlerkollegen zu besuchen und deren Werke ins Auge zu fassen.

22.50 Uhr Fasziniert und doch mit Unbehagen betrachten die Gäste der Wildermuthstraße 4 die dickleibigen Herren in Feinripp, die Gert Bader mit dem Pinsel festgehalten und die er gekonnt mit überquellenden Bäuchen, auf Stühlen platziert hat. Der Titel „Schiesser-Rebelli“ ist ihnen zugewiesen. „Die sollte man vor den Kühlschrank hängen, da geht kein Mensch mehr dran“, schlussfolgert die Backnanger Besucherin Martina Diers gewitzt im Kreis von Freunden. Die auf Leinwand gebannten Adipösen können sich in einem sicher sein: Die Aufmerksamkeit ist ihnen gewiss.

Altmeister und „Lehrherr“ der Brüder Felix und Manuel Seiter, die in ihren Räumen neue Werke zeigen, ist der Steinheimer Tilo Mirisch. Er bezeichnet seine dort ausgestellten Gemälde „als brav und solide“. Direkt an der Wand gegenüber von den eigenwilligen „Schiesser-Models“ angebracht, könnte man ihm da tatsächlich Recht geben.

23.10 Uhr Zum Kinospaß will die Nase Popcorn-Duft schnuppern. Der Besucher im alten Kino wird auch diesbezüglich nicht enttäuscht. Die Neuntklässler des Kunstprofils KIMKO des Friedrich-Schiller-Gymnasiums bedienen diese Erwartung ebenso wie die nach inhaltsvollen Filmen, die durch Intensität und Kreativität auffallen. Inhaltlich sind die 14 Kurz-Filme von deren Mitschülern aus Klasse 10 gestrickt und bringen überraschte Reaktionen von Seiten der Zuschauer hervor. Die Jungen und Mädchen aus dem FSG zeigen sich beeindruckt von der regen Nachfrage, die bis zum späten Abend nicht abreißt.

23.25 Uhr Einmal um den Häuserblock herum, findet man die Bilder von Nihal Dogruer im Künstleratelier Marbach. Die Türkin, die in Istanbul Kunst studiert hat, war selbst Opfer von Gewalt und traumatisiert. Jetzt unterrichtet sie Kunst bei traumatisierten Flüchtlingen und stellt in der Nachtschicht eigene Werke aus. An einer Leine hängen zudem die Bilder jesidischer Kinder, die beim Eintreten in den Raum sofort ins Auge stechen. Türkische Spezialitäten laden die Besucher ein, herzhaft zuzugreifen.

23.35 Uhr Selbst um diese Zeit ist das Verlagshaus der Marbacher Zeitung noch gut besucht. Auch gegenüber, im Fitnessstudio Impuls, geht es lebhaft zu. Überall lachende Leute, die in dieser trockenen, milden Nacht, Geselligkeit suchen. Thomas Fischer, der männliche Teil des Künstlerpaares Stella und Baptist, das seine Fotografien ausstellt, brutzelt verführerisch duftende Fleischstücke draußen am Grill. Die Barkeeper Rafael Garzorz und der MZ-Azubi Sebastian Arand hingegen schauen auf viele leere Flaschen Gin. Der Cocktail „Raspberry Thime Smash“ war der Renner des Abends und kann nun nicht mehr zubereitet werden. „Ein gutes Zeichen“ freuen sich die beiden, „denn dann waren die Drinks ja wohl lecker“. Fotografin Manuela Mühleisen alias Stella, ist sich sicher, dass mindestens 600 Leute da waren, um die Fotos anzusehen, die die beiden gerade unter dem Titel „Menschen am Meer und mehr“ gerade im MZ-Treppenhaus ausstellen.

Für viele Besucher ist die Kunst-Nacht damit aber noch nicht zu Ende. Man hört, dass es mancherorts noch bis in die Morgenstunden ging . . .