Seit rund 200 Jahren wird im Amtsgericht in der Strohgasse Recht gesprochen. Foto: geschichtenfotograf

Seit rund 200 Jahren wird in dem Gebäude in der Strohgasse Recht gesprochen. Das Ringen um Wahrheit, Recht und Strafe gehört dort seit jeher dazu.

Die Robe ist Pflicht: Bevor Ursula Ziegler-Göller den Gerichtssaal betritt, streift sie sich den langen schwarzen Stoff über. Staatsanwalt, Verteidiger, Zuschauer und Angeklagte erheben sich, sobald die 52-Jährige hereinkommt. Das Ringen um Wahrheit, Recht und Strafe kann beginnen, wie schon abertausende Male zuvor. Seit etwa 200 Jahren dient das denkmalgeschützte Gebäude an der Strohgasse der Rechtssprechung. Draußen im Gang, beschienen von Neonlicht, hängen Porträts von Ziegler-Göllers Vorgängern – alle waren Männer. Ursula Ziegler-Göller ist seit dem Jahr 2012 die erste weibliche Direktorin des Amtsgerichts Marbach.

Auf den Tisch der Strafrichterin kommen Akten über Verkehrs- und Drogendelikte, Jugendsachen, Raub, Diebstähle und Vergewaltigungen. Strafen bis zu vier Jahren Haft darf Ziegler-Göller verhängen, für schwerere Verbrechen wie Mord und Totschlag ist das Landgericht zuständig. Doch auch bei den Verhandlungen im scheinbar beschaulichen Marbach erlebt die Richterin in ihrem Alltag gescheiterte Biografien und menschliche Abgründe. „Es gibt immer wieder Einzelfälle, die einem nicht aus dem Kopf gehen“, erzählt die Juristin.

Etwa das Nachspiel eines Unfalls vor genau einem Jahr, bei dem ein 23-jähriger Motorradfahrer bei einem Unfall auf einer Landstraße bei Steinheim sein Leben verlor. Der Autofahrer, der den Biker übersehen hatte, war an dem Vormittag mit Alkohol im Blut unterwegs gewesen und saß später bei Ziegler-Göller auf der Anklagebank. Der Vorwurf: Fahrlässige Tötung. Auch die 22-jährige Freundin des Toten, die bei dem Unfall als Sozia mit auf dem Motorrad gesessen hatte, sagte als Zeugin aus. Das bewegte Ziegler-Göller besonders: „Der Mann hat so viel Leid über die Familie gebracht – die junge Frau ist für den Rest ihres Lebens entstellt und psychisch ein Wrack.“ Ihr Urteil lautete 10 Monate Haft. Ohne Bewährung.

Trotz solcher Geschichten ist die Juristin der Meinung: „Einen besseren Job als meinen gibt es nicht.“ Ein Rechtsanwalt sei seinem Mandanten verpflichtet und müsse unter Umständen Anträge stellen, denen er persönlich nicht zustimmen könne. „Ich dagegen kann Entscheidungen treffen und habe Verantwortung – mit der ich natürlich auch sorgsam umgehen muss.“

Verantwortung tragen auch die anderen 15 Mitarbeiter des Amtsgerichts, etwa Antje Danylak. Die Rechtspflegerin und Verwaltungsleiterin hat ihr Büro gegenüber von Ziegler-Göller, ihre Aufgabe sind unter anderem Vollstreckungsbescheide. Sie kann verfügen, dass die Banken das Gehalt eines Schuldners einbehalten und an die Gläubiger weiterleiten. „Es kommt schon vor, dass man da Mitleid hat“, erzählt Danylak. „Bei einigen hat man den Eindruck, dass sie in diese finanzielle Misere reingerutscht sind.“ Viele der Namen, mit denen Danylak zu tun bekommt, kennt auch die Richterin Ursula Ziegler-Göller – „zum Beispiel wegen des Diebstahls von Lebensmitteln. Auch so etwas gibt es noch“, sagt Ziegler-Göller.

Sie ist der Meinung, jeder Mensch habe nach einem Fehltritt noch eine zweite Chance verdient. „Manchmal kenne ich aber auch kein Pardon – bei Wohnungseinbrüchen etwa.“ Nicht nur die Zahl der Einbrüche habe zugenommen: „Wir haben auch mehr Verhandlungen im Zivilrecht, die Leute klagen häufiger“, so Ziegler-Göller.

Im letzten Jahr seien es noch 600 zivilrechtliche Fälle gewesen, 2015 würden es etwa 100 mehr werden. Auch die Verhandlungen in Strafsachen seien häufiger geworden, bis zum Jahresende kommt das Amtsgericht auf 450 Verfahren – gut zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Besonders die Zahl der schweren Delikte hat zugenommen: „Es kommt heutzutage immer häufiger vor, dass nochmal ‘reingetreten wird, wenn der Widersacher schon am Boden liegt“, sagt Ziegler-Göller. In solchen Fällen lässt die Amtsgerichtsdirektorin keine Ausrede gelten.

An diesem Nachmittag stehen nicht ganz so schwere Fälle auf dem Verhandlungsplan: Ein Diebstahl, ein Drogendelikt, zum Abschluss ein Betrugsfall. Fälle, wie sie Ursula Ziegler-Göller noch viele Male auf den Tisch bekommen wird.