Der 76-jährige Gerhard Rall legt als geschäftsführender Gesellschafter die Hände beileibe nicht in den Schoß. Foto: Oliver von Schaewen

Gerhard Rall arbeitet seit 60 Jahren im eigenen Betrieb. Auch wenn er kürzer tritt, ist seine Meinung nach wie vor gefragt.

Marbach - Der Spannmittelhersteller Hainbuch blickt auf ein hervorragendes Geschäftsjahr mit einem Umsatzanstieg von 14 Prozent zurück. Der Wachstumsmarkt China bescherte dem Industrieunternehmen einen Aufschwung in unerwarteter Höhe. Der geschäftsführende Gesellschafter Gerhard Rall krönte damit sein 60. Jahr im eigenen Betrieb. Wir haben uns mit ihm über sein Jubiläum und die Gründe für den neuerlichen Hainbuch-Erfolg unterhalten.

Herr Rall, 60 Jahre im Betrieb, das dürfte ein ziemlich seltenes Jubiläum sein. Erinnern Sie sich an den Anfang?
Mein späterer Schwiegervater hat mich damals nur ganz kurz taxiert, ob er mich als Azubi nehmen will. Er hat dann gesagt: „Der ist groß und stark – der kann schaffen.“ Das war’s.
Empfinden Sie Stolz auf das, was Sie inzwischen aufgebaut haben?
Ich hätte nie gedacht, so weit zu kommen. Das ist natürlich auch glücklichen Umständen zu verdanken. Meine eigene Erfindung 1977 vom Schnellwechsel-Spannsystem Spanntop hat den Stein dann so richtig ins Rollen gebracht. Es ist aber nie immer nur eigenes Können, das Menschen erfolgreich macht. Ich habe auch einige Katastrophen erlebt und war immer ganz verzagt durch diese Ereignisse. Im Nachhinein haben sie sich oft als weiterführend erwiesen. Deshalb schwingt bei mir auch eine gewisse Gelassenheit mit, wenn ich heute scheinbar negative Entwicklungen beobachte.
Welche Katastrophe hat Ihnen nachträglich genutzt?
Laut EU-Recht hat ein Unternehmen 20  Jahre Bestandsschutz für ein Patent. Dann ist es Allgemeingut. Uns betraf das im Jahr 2000. Damals lief unser erstes Patent auf das neuartige Schnellwechsel-Spannsystem Spanntop aus. Ich ahnte schon, dass die Mitbewerber dann massiv kopieren würden. Und tatsächlich kam es so. Heute gibt es über 50 Anbieter, die das weltweit nachahmen.
Bei so viel Konkurrenz denkt man an Auftragseinbrüche und Verluste.
Richtig. Aber es stellte sich heraus: Gerade diese Zeit von 2000 bis 2010 war für uns das beste Jahrzehnt überhaupt. Das Produkt hat durch die vielen Nachahmer eine höhere Anerkennung erlangt. Vorher hat es nur eine Minifabrik namens Hainbuch angeboten. Große Konzerne wie Daimler und Bosch lehnen alles ab, wenn es weltweit nur einen Hersteller gibt. Was nach 2000 folgte, war eine rasante Verbreitung von Spanntop.
Wie erfolgreich ist Ihr Unternehmen im Augenblick?
Wir hatten 2015 ein recht gutes Jahr. Ich sah keine Anzeichen, dass 2016 schlechter werden wird. Für uns ist es ein schlechtes Jahr, wenn im Auftragseingang ein Minus steht. Das war’s dann auch. Warum, kann ich nicht sagen. Unsere Kunden waren stark zögerlich. Hingegen war für 2017 nicht vorhersehbar, dass es ein 26-prozentiges Auftragsplus geben könnte. Es war also ein gutes Jahr, wir haben ein Plus von etwa 14 Prozent im Umsatz.
Was könnte der Grund für den unerwartet deutlichen Aufschwung sein?
Genau lässt sich das auch nicht sagen. Unsere Kunden haben auf einmal alles geliebt, geschätzt, gemocht, was wir angeboten haben – und zwar weltweit. Die starken Impulse kamen eindeutig vom Ausland. Unser Hauptsitz in Marbach macht nur noch 18 Prozent der gesamten Produktionsfläche aus. Mit unseren beiden Produktionsstätten in Niederstetten und Satteldorf kommen wir somit auf 30 Prozent in Deutschland und alles andere ist im Ausland. Wir haben mit der zweiten Firma in China im vorigen Jahr unsere insgesamt zwölfte Auslandsgesellschaft gegründet.
Warum spielt sich so viel in China ab?
Asien hat sich rasend entwickelt. China war im internationalen Produktionsranking in puncto Drehen, Fräsen, Schleifen die Nummer eins – und zwar mit so großem Abstand, dass die nächsten zehn großen Industrienationen mit Deutschland, Frankreich und England sowie USA, Korea und Japan zusammen nicht auf den Wert –  Werkzeugmaschinen, die in einem Jahr in Produktion gehen – von China kommen. Es ist unheimlich, wie massiv dort die Fertigungen aufgebaut wurden.
Was bedeutet das für Hainbuch?
Wir wollen mit unserer zweiten Tochter, ein Fertigungsbetrieb in China, keine Produktion von Standardspannzeugen, sondern nur die Fertigung von Applikationsanpassungen aufziehen.
Wie stark erleben Sie China als Land für die Industrie 4.0?
Es ist unerhört, wie stark die Modernisierung dort voranschreitet. Das ist nur mit einem autokratischen System möglich. So ist die künstliche Intelligenz zur Staatsstrategie erhoben worden. Da werden Universitäten mit allem ausgestattet, was sie brauchen, beziehungsweise was sie sich wünschen. Da kann kein anderes Land mehr mithalten.
Sollten wir das in Deutschland ähnlich wie die Chinesen machen?
Das können wir nicht, weil es bei uns die Demokratie gibt. Die Universitäten etwa werden nicht so massiv ausgestattet, da jedes Bundesland seinen Etat hat. Da wird gekämpft, und nicht jeder ist so technologieaffin, dass er alles so intensiv fördert. Wir sind da schon sehr traditionsbewusst.
Ist die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen durch weitere Digitalisierung nicht auch nachvollziehbar?
In Frankreich haben im 19. Jahrhundert, zu Beginn der Industrialisierung, die Arbeiter ihre Holzschuhe in die ersten elektrischen Dreschmaschinen geworfen. Die Holzschuhe heißen Sabot, sodass sich daraus das Wort Sabotage abgeleitet hat. Heute leisten CNC-Maschinen ein Vielfaches von dem, was früher Maschinen an Output erbrachten. Aber trotzdem haben wir heute Vollbeschäftigung. Also Angst hat man immer vor dem, was an Neuem Einzug hält – aber die Menschheit ist mit dem bisher immer zurechtgekommen. Es ist aber irgendwo verständlich, dass die Menschen Angst haben, ihren Arbeitsplatz zum Beispiel durch einen Roboter zu verlieren.
Wie kann Hainbuch dem allgemeinen Fachkräftemangel entgegensteuern?
Einen Betrieb führt man, indem man es seinen Mitarbeitern reizvoll macht, in dem Betrieb zu arbeiten. Man darf nicht schieben, drücken, sondern sollte es reizvoll machen und einen Sog bilden. Das ist das ganze Geheimnis, das auch auf das Verhältnis zu Kunden, Zulieferern und Banken anwendbar ist.
Wie schaffen Sie es, die Leute zu motivieren?
Jeder Mitarbeiter, der neu bei uns anfängt, kommt in den ersten Tagen zu mir, und ich erkläre ihm unsere Hainbuch Identität. Ich habe zum Beispiel eine neue Angestellte gefragt, wie sie am ersten Tag empfangen worden sei. Sie sagte: „Ich habe mich beim Empfang gefühlt, wie das Mitglied einer Königsfamilie.“
Tatsächlich?
Ja (lacht).
Was gehört für Sie zu einem gelungenen Arbeitstag?
Die Zahlen müssen stimmen. Auftragseingang und Umsatz sind zentral. Das beeinflusst stark meine persönliche Stimmung. Da bin ich mit der juristischen Person Hainbuch zu fest verbandelt.
Ihnen geht es gesundheitlich gut. Wie lange wollen Sie im Betrieb noch bleiben?
Die Frage habe ich erwartet. Würden Sie das auch Peter Maffay oder Marius Müller-Westernhagen fragen?
Wenn sich die Musiker entschließen würden, nur noch vor 50  statt 15 000 Zuschauern Konzerte zu geben, schon…
Diese beiden Musiker sind fasziniert von ihrer Musik, haben Freude dran und lieben ihren Beruf. Es ist viel zu spannend bei uns, als dass ich zu Hause sitzen könnte. Ich sehe mich zwar nicht mehr als Dirigent, aber auch nicht nur zum Notenumblättern. Ich sehe mich mittlerweile als Berater von meiner Tochter.
Würden es die anderen schaffen, ohne Sie so erfolgreich zu sein?
Ja, selbstverständlich. Es gibt Dinge, in denen ich im Laufe der Jahre eine gewisse Sensibilität entwickelt habe. Junge Leute gehen da vielleicht etwas ungestüm ran. Ich würde Dinge nicht tun, selbst wenn es legal und gesetzlich erlaubt ist, aber in der Gesellschaft keine Akzeptanz hat. Da habe ich vorher meine Grenzen, also engere als die Legalität. Der Unterschied ist: Ich sehe mich mit unserem Betrieb als Teil der Gesellschaft. Was die Bevölkerung über das denkt, was wir tun, ist wesentlich.
Sie gehen auf die 80 zu. Überlegt man da nicht, noch etwas zu verändern?
Das Gehirn ist wie ein Muskel. Er muss trainiert werden. Wenn sie nichts tun, erschlafft der Muskel.
Und wenn es darum geht, sich zu schonen – wie sehen Sie das?
Nein. Sich zu schonen, auch im sportlichen Bereich, ist eigentlich nicht mein Ding. Ich bin vor zwei Jahren erst – und da bin ich stolz drauf – den Mont Ventoux mit dem Rad hochgefahren.
Da haben Sie kein E-Bike benutzt . . .
Nein, um Gottes Willen. Das sind 21 Kilometer immer bergauf, 1600 Meter Höhenunterschied und zwischen sechs und zwölf Prozent Steigung.