Heinz-Werner Neudorfer erinnert sich gerne an sein Wirken rund um die Alexanderkirche. Foto: Oliver von Schaewen

Der evangelische Dekan Heinz-Werner Neudorfer wird an diesem Wochenende verabschiedet.

Marbach - Als Dekan für den Evangelischen Kirchenbezirk Marbach ist Heinz-Werner Neudorfer fast 13 Jahre lang wie eine Art Regionalbischof für die Kirchengemeinden zwischen Marbach bis Ilsfeld-Auenstein verantwortlich gewesen. Morgen wird er um 15 Uhr in der Stadtkirche offiziell verabschiedet. Wir blicken mit ihm auf seine Zeit zurück.

Wie fühlen Sie sich kurz vor dem Abschied?
Ich bin kein Gefühlsmensch. Ich verfalle weder in Euphorie noch in Depressionen. Ich bin froh, wenn es sich emotional auf einer Mittellinie bewegt. Es ist natürlich ein Abschied, meine Frau Renate und ich werden manche Menschen nicht mehr sehen. Wir sind nach Reutlingen umgezogen: Ich freue mich auf den neuen Lebensabschnitt, es war aber auch eine schöne Zeit in den etwa 40 Dienstjahren, aber jetzt reicht es auch.
Warum haben Sie sich Reutlingen für Ihren Ruhestand ausgesucht?
Es gab keinen besonderen Grund. Wir haben gesagt: Zwischen Heilbronn und Tübingen geht alles. In Reutlingen haben wir eine Wohnung gesehen, die wir uns leisten können. Einer unserer vier Söhne lebt dort, es ist auch eine schöne Stadt.
Sie sind fast 13 Jahre in Marbach tätig gewesen. Wie sehen Sie Ihr Wirken?
Als ich antrat, nahm ich mir vor, den Kirchenbezirk wirtschaftlich und geistlich in einem guten Zustand zu hinterlassen. Finanziell geht es uns gut, was aber mehr an den Kirchensteuern als an mir lag. Wir haben ganz vernünftige Lösungen gefunden, aber man sollte als Dekan nicht die Illusion haben, seinen Kirchenbezirk nach seinem Willen gestalten zu können. Mir ging es darum, gemeinsam etwas zu machen: Die Begriffe Partizipation und Kooperation sind für mich nicht nur Stichworte – das möchte ich auch leben.
Was hat sich im evangelischen Kirchenbezirk unter Ihnen verändert?
Die Zahl der Pfarrstellen ist zurückgegangen, wir folgen dem Pfarrplan, den die Landeskirche vorgibt. Ich bin sehr dankbar, dass mir die großen Krisen beim Personal erspart geblieben sind. Auch sonst gab es keine großen Katastrophen in unseren Kirchengemeinden.
Was hätten denn für Katastrophen eintreten können?
Ich denke da an Fälle von sexuellem Missbrauch oder Unterschlagung. Das kann einen als Dekan während der Amtszeit von heute auf morgen plötzlich ereilen und man ist dann wochenlang mit nichts anderem beschäftigt.
Welche Veränderungen beobachten Sie außerdem?
Ich habe immer versucht, die Pfarrer, die sich hier bei mir beworben haben, gleich zu behandeln und zu unterstützen. Das mag in dem einen Fall als mehr, im anderen Fall als weniger gelungen betrachtet worden sein.
Als Dekan kann man nicht Everybody’s Darling sein . . .
Ja, genau. Das wäre ich eigentlich als harmoniefreudiger Mensch gerne. Ich habe aber auch lernen müssen, dass es nicht geht. An manchen Stellen ist es auch nötig, Grenzen zu setzen und Worte zu sagen, die nicht unbedingt ankommen.
In welchen Bereichen war es für Sie wichtig, Grenzen zu setzen?
Es ist manchmal schon nötig zu signalisieren: Sie haben hier eine Aufgabe, und die müssen Sie auch erfüllen. Wir machen ja alle lieber das, was uns Spaß macht, und doch muss auch das erledigt werden, was nicht so viel Spaß macht.
Ist der Beruf des Pfarrers in den vergangenen zehn, 20 Jahren schwieriger geworden?
Jedenfalls ist er anders geworden. Das hat mit der Stellung des Pfarrers zu tun. Das Ansehen im Vergleich zu anderen Berufen ist deutlich zurückgegangen. Als „Pfarrherr“ galt er früher als von allen anerkannte Autorität, als ein Leitungsmensch – und das ist heute nicht mehr so. Das finde ich richtig.
Warum?
Ich finde, es ist auch von Jesus oder Paulus her nicht so gedacht, dass da einer ist, der da führt und leitet, und wenn der dann den Daumen senkt, dann ist es vorbei. Stattdessen übernehmen doch in einer Kirchengemeinde viele Leute Verantwortung, um etwas Gemeinsames zu tun. Davon ist der Pfarrer ein wichtiger Bestandteil, weil er eine Ausbildung genossen hat, die für die Kirche wichtig und so leicht nicht zu ersetzen ist.
Der Pfarrer soll also nicht mehr der Hans Dampf in allen Gassen sein?
Richtig. Aber man muss aufpassen, dass die Leistung unserer Vorgänger-Generationen nicht durch solche Redensarten geschmälert werden. Die haben viel bewegt. Andererseits muss man sehen: Diese Dominanz tut einer Gemeinde nicht gut.
Sollte ein Pfarrer heutzutage mehr Moderator sein? Ein Gefühl für Konflikte zwischen den Menschen und deren Entschärfung haben und vermitteln?
Er sollte Menschen wiedergewinnen und ermutigen können, wenn sie aufgeben wollen, und er sollte neue Leute ansprechen und zum Mitmachen bewegen können. Vor allem auch, Haupt- und Ehrenamtliche bestätigen: Würdigen, wertschätzen – da muss ich selbstkritisch sagen: Es war nicht meine größte Stärke, aber es ist wichtig!
Wie bescheiden sollte ein Dekan sein?
Es ist mir einmal an einer Stelle in Marbach vorgeworfen worden: Ein demütiger Dekan sei auch nicht das einzig Wahre – und das stimmt. Ich finde, Demut ist eine wichtige Eigenschaft, aber sie hat auch ihre Grenze. Das ist sicher auch eine Schwäche von mir.
Aber das andere Extrem wäre auch nicht gut, finden Sie nicht auch?
Manche Leute erwarten von einem Dekan, dass er deutlich voranschreitet, auch gegenüber der Öffentlichkeit. Das ist prinzipiell schon richtig, Kirche braucht auch Orientierungspersonen. Die Frage ist: Kann ich die Dinge, die ich gerne haben möchte, zurückstellen, weil nicht die Zeit dafür ist oder die Gemeinde es nicht will.
Welche Dinge wollten Sie weiterverfolgen, mussten sie aber dann schließlich doch zurückstecken?
Das eine war, in Marbach einen Gemeindeaufbau mit einem diakonisch-geistlichen Oasennetz zu betreiben. Das wären über die Stadt verteilt Häuser gewesen mit Familien, die Ansprechpartner für Suchende wären. Also weg von der Kirche der Hauptamtlichen, wo man eben zur Diakonischen Bezirksstelle oder dem Gemeindebüro geht. Was auch nicht klappte, war mein Wunsch, einen thematischen viertel- oder halbjährlichen Gottesdienst zu installieren mit ganz verschiedenen Themen wie Männer, Taizé oder Jugend, es ist vom Kirchengemeinderat nicht weiterverfolgt worden, was für mich aber auch überhaupt kein Problem ist.
Sie haben bei bestimmten Themen aber auch klare Kante gezeigt, etwa bei der „Ehe für alle“ . Worauf kam es Ihnen dabei an?
Bei der Ordination wurde ich verpflichtet, die Ordnung der Kirche zu halten und dafür zu sorgen, auf der Basis der Bibel und der Reformation. Dazu gehört auch, „der Verwirrung der Gewissen zu wehren“. Hier habe ich gemerkt, die „Ehe für alle“ ist ein Punkt, der sehr unterschiedlich in der Gesellschaft bewertet wird. Ich bin der Meinung, dass „Ehe für alle“ für Christen nicht möglich ist. Es ist eine staatliche Regelung, aber die Kirche muss auf diesen Dampfer nicht aufspringen.
Manche Politiker reklamieren immer wieder die christliche Leitkultur für Deutschland. In welcher Form brauchen wir die?
Wenn wir in die baden-württembergische Landesverfassung schauen, stehen dort die Ehrfurcht vor Gott und der Respekt vor den Menschen wortwörtlich so verankert. Der Staat hat also nach der Katastrophe des Nazi-Regimes und des Zweiten Weltkriegs diese christlichen Werte in den 40er- und 50er Jahren aufgegriffen. Ich bin der Meinung, da sollten wir dran festhalten.
Wo steht Kirche diesbezüglich?
Sie darf nicht nur Schmiermittel der Gesellschaft sein. Also dort, wo es knirscht, aushelfen. Etwa, wenn die Diakonische Bezirksstelle eingreift, wenn jemand sozial nicht mehr abgefedert ist. Es ist richtig und gut, dass wir es tun, aber für mich geht es letztlich um die Frage „Gibt es Gott?“ Wenn es ihn nicht gibt, können wir alles – und auch die Kirche – vergessen. Da könnte man eine andere Organisation gründen, die nicht den weltanschaulichen Überbau braucht.
Wie können Menschen Gott finden – und wie offen sind die Menschen hier in und um Marbach in dieser zentralen Frage gewesen?
Das ist eine interessante Frage. Jemand sagte mir mal: Kirche geht in Marbach bis zur Konfirmation und dann ist erst mal Schluss. Vielleicht zur Trauung wieder. Da ist schon was dran. Es gibt hier sehr viele kirchenfreundliche Menschen in allen Gemeinden, auch im Rathaus begegnet mir viel Freundlichkeit, aber es ist auch bei vielen Menschen immer eine gewisse Distanziertheit zu spüren. Manche sagen, es ist der Schillergeist, das man nicht zu kirchlich wird. Es kann schon sein, dass der Stolz auf diese Persönlichkeit dazu führt, dass man meint, dessen aufklärerische Gedanken müssten auch heute noch lebendig gehalten werden.
Mit diesem Gegensatz wären Sie nicht zufrieden?
Ich komme vom Pietismus her und meine, dass der einzelne gefragt ist. Es geht darum, wie das Individuum zu Gott steht und mit Gott kommuniziert. Wir haben in Marbach versucht, das durch die Zelttage im Jahr 2012 stadtweit zum Thema zu machen. Wir haben dabei die Schwelle bewusst niedrig gehalten. Ich denke, es gibt nicht die einlinige Art, wie der Mensch zu Gott findet. Finden setzt Suchen voraus. Wenn jemand Gott sucht ist er schon sehr weit fortgeschritten. Es gibt aber auch den Fall, dass Menschen irgendwie am Ende waren und dort auf Gott gestoßen sind.
Wie sehen Sie den Pfarrplan und den Verlust von immer mehr Pfarrstellen?
Wir versuchen dem Pfarrplan auch entgegenzuwirken und ihn menschlich zu gestalten. Es gibt Gespräche zwischen Rielingshausen und Marbach. Wir Marbacher haben gesagt, wir wollen einen fairen Ausgleich finden, beide verlieren was. Wir haben dann gesagt, in Marbach wird es ja noch ein Pfarramt geben, und es soll auch in Rielingshausen noch ein Pfarrer wohnen, der von dort aus dann Teile Marbachs mitbetreut. In Winzerhausen und Großbottwar haben wir es ähnlich gemacht, das wurde akzeptiert.
Brauchen Christen heutzutage noch Kirchengemeinden? Wer aus der Kirche austritt, bezeichnet sich unter Umständen noch als Christ . . .
Nehmen wir als Beispiel die Hauskreise. Es gibt die Tendenz zu sagen, meine Kirchengemeinde ist der Hauskreis. Das sind die 15, mit denen ich gut zurecht komme und mich dann regelmäßig treffe. Damit setze ich mich aber nicht denen aus, die mir Dinge sagen, die mir nicht gefallen. Das fände ich schwierig. Die „anderen“ brauchen mich, wie ich auch die „anderen“ brauche. Sie können mir den Weg weisen, den ich selbst so nicht finden würde.
Um die Zukunft der Kirchengemeinden wird Ihnen also nicht bange?
Ich finde es gut, dass viele Modelle ausprobiert werden. Etwa zur Taufe einzuladen, auch auf unkonventionelle Art und Weise. Wir hatten diesen Taufgottesdienst am Neckar. Da muss man schon auf die Leute zugehen und versuchen, sie innerlich zu gewinnen. Man müsste von unten her mehr aufbauen.