Foto:  

Wie ein Kaleidoskop macht die zweite Nachtschicht Kunst es möglich, an einem Abend das ganze Spektrum der Künstlerszene in der malerischen Altstadt zu entdecken.

MarbachRathaus

Es ist eine wirklich heiße Sommernacht, in Marbachs historischen Gassen steht die schwülheiße Luft, in der Ferne zieht schon ein Gewitter auf. Auch im Foyer des Rathauses ist es sehr heiß. Mit bunten Fächern wedeln sich farbenfroh gekleidete Damen Luft zu und daneben stehende Herren profitieren vom kühlen Luftzug. Mehr als 70 Personen sind an diesem Freitagabend gekommen, um dort die Ausstellungseröffnung „Textile(s) Gestalten“ mit Werken aus Stoff von Elisabeth Böckmann zu feiern. Die Vernissage bildet an diesem Abend gleichzeitig den Beginn der 2. Nachtschicht Kunst, die der Theater- und Kulturverein Südlich vom Ochsen initiiert und organisiert.

Noch bis 8. September präsentiert die Marbacher Künstlerin Elisabeth Böckmann ihre Werke aus Stoff im Rathaus: „Was mit der Nähmaschine alles möglich ist, das habe ich hier ausprobiert“, sagt sie in ihrer Rede zur Eröffnung, „Drachen, Löwen, Vögel – und Spaghetti.“ Und tatsächlich ist ein sehr vielfältiges und abwechslungsreiches Gesamtwerk entstanden, das sich entweder als Bild an der Wand, als großes Kissen auf dem Boden oder als Makramee vor einem Holzbalken präsentiert. Die langen Stoffstreifen, die die ehemalige Lehrerin an der Tobias-Mayer-Schule für ihre Arbeit benötigt, hat sie selbst aus T-Shirts oder alten Bettlaken hergestellt, anschließend geflochten und dann entsprechend verarbeitet. „Flechten ist eine sehr meditative Arbeit“, berichtet Elisabeth Böckmann weiter, „und es macht Spaß, Farben zu mischen.“

Musikalisch begeistert der syrische Sänger und Gitarrist Mazen Mohsen. Erst rhythmisch und schließlich zärtlich leise trägt er das Lied „Habibi“ vor, das – wie er sagt – auf Deutsch „Schätzle“ heißt. Auch mit seinem konzertant anmutenden „Guten Abend, gut Nacht“ verzaubert er die Anwesenden, die schließlich erfreut in den Refrain einsteigen und mitsingen – bis er ganz plötzlich in eine arabische Version des Liedes kippt und damit das Publikum zum Lachen bringt.

Später am Abend hat im 2. Stock der Marbacher Autor Peter Frömmig Auszüge aus seinem neuen Buch „Venedig lebt noch. Erzählung eines Sommers“ gelesen. Er freut sich, dass sich ein großes Publikum eingefunden hat und gebannt zuhört. „Passend zu einer Gewittersituation über der Lagune in meiner Erzählung, herrscht auch Gewitterstimmung über der Stadt.“

Marktstraße 2

Und weiter geht es durch die schwül-heiße Marktstraße zur Galerie Wendelinskapelle. Dort findet gleich die nächste Vernissage statt – drei Künstler haben sich unter dem Titel „Grenzland/Traumland“ zusammengefunden und präsentieren hier ihre Werke noch bis 20. August. Einer der Künstler, der Bildhauer Bernd Zimmer, führt in die Ausstellung ein und beschreibt, wie ihn bei seiner Arbeit die Formen der Dinge anregen. Sybille Möndel wurde durch ein Pressefoto einer typischen Flüchtlingsszene an einem Grenzzaun zu ihren Bildern inspiriert. Conny Luley zeigt dagegen in ihren Bildern „farbige Gedichte“, beseelt von einer Reise in den Norden.

Kaum ein freies Plätzchen ist mehr für die unaufhörlich nachströmenden Besucher in der Buchhandlung Taube zu finden, in der zurzeit großformatige Bilder von Gert Bader gezeigt werden. Die Band „Combo Patibel“ umrahmt die Vernissage musikalisch und so stimmungsvoll, dass ein Paar sogar einen Tanz wagt. „Jetzt bewegen die sich noch“, stöhnt ein Gast und fächelt sich frische Luft zu – auch hier warten viele auf Abkühlung durch das nahende Gewitter.

Wildermuthstraße 4 und Lugplätzle

Die Marbacher Brüder Felix und Manuel Seiter zeigen in ihrer Galerie und am Lugplätzle, was sie bewegt und was sie bewegen. „Woran die Zeit nagt, was eine Geschichte erzählt, ist für mich reizvoll“, sagt Felix Seiter, der auf dem Lugplätzle Türen und Stühle arrangiert hat. In der Kopfstein Galerie abelli zeigt er einen Ausschnitt seiner rund zehnjährigen künstlerischen Arbeit. Gemeinsam mit seinem Bruder und weiteren Künstlern, wie Moritz Junkermann, ist in der Galerie mit Abwechslung gesorgt. Junkermann zeigt Buchstaben und Ziffern aus Metallschrott, „Buchstaben lassen mich einfach nicht los“, sagt der gelernte Typograf. In und vor der Galerie herrscht den ganzen Abend hindurch ein buntes Treiben der jungen kunstinteressierten Szene. „Die Nachtschicht Kunst ist praktisch aus der Welle entstanden, die der Verein Südlich vom Ochsen mit seinem Sommertheater im vergangenen Jahr erzeugt hat“, sagt Felix Seiter, der die Veranstaltung gerne unterstützt.

König-Wilhelm-Platz 2

Ob denn noch ein Gewitter aufkommt und Abkühlung bringt, kann Hobby-Meteorologe Yannick Garbe beantworten, der in den Wochenendausgaben der Marbacher Zeitung regelmäßig das Wetter voraussagt. „Durch das nahende Gewitter kommt erst ein angenehmer Wind auf, es wird höchstwahrscheinlich noch regnen, mit starken Unwettern ist jedoch nicht zu rechnen“, sagt er nach seiner Wetter-Präsentation. Im Verlagsgebäude schauen sich derweil Besucher seine Foto-Ausstellung „Donnerwetter“ an, die passenderweise vor allem Fotos von Gewitterwolken zeigt. „Wir sind extra wegen der Fotos hier her gekommen“, sagt eine Besucherin, die keine Wettervorhersage von Garbe verpasst, „die stimmen immer!“

Güntterstraße 6

Hollywood ist in Marbach angekommen. Die Darsteller aus den Musikvideos inszenieren sich anlässlich der „Oscar-Prämierung“ auf dem roten Teppich vor dem Alten Kino – bis es schließlich zu regnen beginnt. Lehrerin Konstanze Roth betreut das FSG-Kunstprofil KIMKO: „Wir wollen die Filme der Schüler zeigen, die sonst nach der Arbeit vielleicht in einer Schublade verschwinden würden und nutzen gerne noch einmal das Alte Kino als wunderbaren Veranstaltungsort.“

Güntterstraße 6, Gebäuderückseite

Diskret nur möchten Torsten Licker und seine Frau Nihal, die bis vor kurzem noch Nihal Dogruer hieß, ihr Künstleratelier präsentieren. Und so ist es ihnen ganz recht, dass es nicht so leicht zu entdecken ist. Hier finden unter anderem Kunstkurse statt, die über die Psychologische Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene (PBV) aus Stuttgart angeboten werden.

Bürgerturm

Jens Schramm ist gebürtiger Marbacher und zeigt an diesem Tag seine erste Ausstellung überhaupt. Die Stadt hat ihm den Raum im Bürgerturm für diesen Tag zur Verfügung gestellt und er freut sich, dass sehr viele Menschen gekommen sind, um seine Blumen-Fotografien zu sehen. „Das sind alles Marbacher Blumen“, sagt er, „die Tulpen sind von der Schillerhöhe und die meisten Rosen vom Burgplatz.“

Schlosskeller

Einen großen Raum mit Kunst zu füllen, ist für Susanne Feix kein Problem. In Vitrinen zeigt sie ihre Glasobjekte und an den Wänden präsentiert sie ihre Bilder. Auch Installationen sind zum Gesamtwerk der Marbacherin dazugekommen. „Das ist meine neueste Installation mit dem Namen „Innere Heimat““, stellt sie ihr Werk vor, „auf Rollen, ich kann sie überall mit hinnehmen.“ Ihre neue Leidenschaft hat Susanne Feix im Jahr 2013 entdeckt: den Tango. Und so spielt ein Duo kurz vor 23 Uhr einige Lieder der argentinischen Musik. Fünf Paare tanzen dazu – und scheinen alles andere um sich herum zu vergessen. Später wird noch DJane Angela Tango auflegen und die Tanzbegeisterten freuen sich: „Ich habe heute extra meine Tangoschuhe mitgebracht.“

Obere Holdergasse 15

Mark Scheuerle ist Initiator und Vorsitzender des Theater- und Kulturvereins Südlich vom Ochsen e.V., hat die Nachtschicht Kunst initiiert und stellt an diesem Abend seinen Hof und seine Scheune zur Verfügung. Elektra Moschopoulou verbindet hier Mode mit Fotografie, Danai Nielsen zeigt ihre Kunstwerke aus Papier und bietet im Hof eine berührende Soloperformance dar, bei der sie ihre wunderbare Stimme mit einem Synthesizer bearbeitet. Der starke Regen zeichnet dabei skurrile Muster in das Scheinwerferlicht und macht den Aufenthalt in der Scheune umso gemütlicher. Mark Scheuerle stellt an diesem Abend sein privates Areal zur Verfügung und lebt mit seinem Engagement sein Interesse an Kunst aus, das er schon in der Schule entdeckt hat. Dieses Jahr zeigt der Verein Südlich vom Ochsen noch eine eigene Theaterproduktion, die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig. „Die Kunstnacht ist ein Intermezzo“, sagt er und macht neugierig auf kommende Veranstaltungen.

Marktstraße 16

Ein Stand unter den Arkaden, sehr spät am Abend, geschützt vom Gewitterregen. Doch Stephanie Gempe sagt: „Ich bin sehr zufrieden und hatte guten Zuspruch heute.“ Viele kennen sie bereits vom Töpfermarkt. Sie hat Ketten dabei – aus recycelten Espressokapseln – und bemalte Imbissbuden-Papptabletts. Upcycling ist ihr Ding. „Ich komme beim nächsten Mal auf jeden Fall wieder“, und sie beginnt, ihre Sachen abzuräumen.

Obere Holdergasse 24

Katrin Köhler macht Schmuck, „in einer Kombination aus Farbe und Leuchtkraft, in der Tiefe durch Transparenz entsteht“, wie sie selbst sagt. Seit drei Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Marbach und fühlt sich wohl hier. Ihr Man sagt: „Dieses Kunsthandwerk hat sich Katrin selbst erarbeitet, nur durch vielfältiges ausprobieren konnte sie zu dieser Reife gelangen.“ Aber diese Farbigkeit schaffe eben nur Emaille. Katrin Köhler freut sich über den gelungenen Abend, der gut besucht war. „Doch der Regen zersprengt jetzt alles, sonst wäre sicher noch viel mehr auf der Straße los.“

Göckelhof 6

Fritz Genkinger hat viele Jahre in Rielingshausen gelebt und gearbeitet, bevor er sich auf die schwäbische Alb zurückgezogen hat. Der Freundeskreis informiert in der Scheune des sanierungsbedürftigen Gebäudes über das Projekt, hier ein Kunsthaus in Marbach zu Ehren des Malers zu schaffen. Pläne an der Wand machen die Ideen deutlich und Filme stellen den Künstler und seine Arbeit vor. Manfred Knappe vom Freundeskreis ist kurz vor Mitternacht froh über die gut besuchte Veranstaltung und konnte für den Freundeskreis eine Hand voll neuer Mitglieder werben.