Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani Foto: bilderlaube.de

Die Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani liest am Sonntag auf der Schillerhöhe aus „33 Bogen und ein Teehaus“. Dabei, so verspricht sie, wird sie viel erzählen.

Marbach - Mit „33 Bogen und ein Teehaus“ hat Mehrnousch Zaeri-Esfahani die Geschichte ihrer Flucht als Zehnjährige aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland aufgearbeitet. Das autobiografische Werk, das sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet, zählt laut Stiftung Lesen und der Leipziger Buchmesse zu den besten Veröffentlichungen der vergangenen zwöf Monate. Im Interview berichtet die in Berlin lebende Autorin, was Erzählungen für sie bedeuten und warum sie wichtig sind im Alltag der Menschen.

Frau Zaeri-Esfahani, welches sind Ihre frühen Erinnerungen ans Erzählen?
Mein Heimatland, der Iran, hat eine sehr alte Erzählkultur. Selbst in sehr intellektuellen Familien wird zusätzlich zum Vorlesen und Lesen noch viel mehr erzählt. Oft sind es die Großmütter, die diese Kunst weitergeben. Auch ich hatte das Glück, als stille Zuhörerin, neben einer erzählenden Großmutter aufzuwachsen.
Wie sind Sie dann selbst zur Erzählerin geworden?
Ich kam mit elf Jahren nach Deutschland. In den ersten Jahren hatte ich den Eindruck, dass ich wie ein deutsches Kind werden müsste, um hier akzeptiert zu werden. So gab ich vieles von meiner persischen Art auf. Auch das Erzählen. Erst nachdem ich im Alter von 38 Jahren meine beiden autobiografischen Romane schrieb, erinnerte ich mich wieder an meine iranische Herkunft. Und ohne es selbst zu merken, wurde ich mit jeder Lesung ein bisschen mehr zur Erzählerin. Mittlerweile bestehen meine Lesungen mehr als zur Hälfte aus Erzählen und Palavern mit dem Publikum.
Sie haben erfolgreich als Sozialpädagogin gearbeitet, hat das Einfluss auf Ihren Drang zu erzählen?
Nein als Sozialpädagogin hörte ich eher zu. Ich sammelte in der Arbeit mit Flüchtlingen viele Geschichten sowohl aus den dunkelsten menschlichen Abgründen, als auch von Wundern und von Mitmenschlichkeit. Nun, da ich meinen Beruf aufgegeben habe, möchte ich diese Geschichten, die alle zu dem einen Großen und Ganzen führen, erzählen. Sprich, von der Essenz des Lebens, die aus Humor und Geduld besteht.
Ihr autobiografisches Buch „33 Bogen und ein Teehaus“ beschreibt die Flucht Ihrer Familie aus dem Iran nach der Machtübernahme Ayatollah Chomeinis. Im Begleittext heißt es, die Autorin erzählt „von schrecklichen und traurigen, aber auch von glücklichen und heiteren Erlebnissen in dieser Zeit“. Haben Sie während Ihrer Arbeit an dem Buch feststellen müssen, dass es so etwas wie eine Grenze des Erzählbaren gibt?
Ja. Einerseits, weil meine Bücher für Kinder und Jugendliche bestimmt waren. Und andererseits, weil es sich um autobiografische Werke handelte. Die Grenze ist dort, wo die Persönlichkeitsrechte der realen Figuren verletzt worden wären.
Die Ereignisse in Ihrem Buch beginnen im Jahr 1979. Hätten Sie fast 40 Jahre später gedacht, dass die Themen Flucht und Migration wieder so aktuell werden?
Dass die Themen immer aktuell bleiben, wusste ich. Migration ist ein Phänomen, das zum Menschen gehört. Aber, dass eines Tages die Zivilgesellschaft aufstehen und sich kümmern würde, und dass kommunale Verwaltungen und die Landkreise endlich verstehen würden, dass es sich für alle lohnt, echte Integration zu fördern, hätte ich nicht gedacht. Ich habe geglaubt, dass Diskriminierung und Fremdenangst auch zum Menschen gehören.
Wie hat sich Ihr Blick auf Deutschland durch die Situation der Flüchtlinge verändert?
In meinem gesamten Berufsleben in der Flüchtlingsarbeit seit Mitte der 1990er-Jahre hatte ich bis vor drei Jahren eher ernüchternde bis enttäuschende Erfahrungen mit struktureller Diskriminierung gemacht. Ich bin nun sicher, dass Deutschlands Demokratie gerade erwachsen wird. Deshalb gibt es auch so viel Verunsicherung und Polarisierung in der Gesellschaft. Ich bin sehr zuversichtlich, was die demokratische Zukunft Deutschlands anbetrifft, trotz all der Unkenrufe. Deutschland und die Mehrheit seiner Bevölkerung und Politiker sind eine der stärksten Demokratien weltweit. Dafür liebe ich dieses Land.
Was können Erzählungen dazu beitragen, um das gegenseitige Verständnis zu vertiefen? Inwiefern sind sie eine Bereicherung für beide Seiten?
Durch das Erzählen, insbesondere wahrer Geschichten, erreicht man den Zuhörer auf der emotionalen Ebene. Er kann eher mitfühlen. Das deutsche Publikum dürstet nach dem Erzählen. Hier wurde das Erzählen mehr oder weniger nach der Individualisierung in den 1970er-Jahren abgeschafft. Das Erzählen wird oft als „Zeitverschwendung“ empfunden. Ich erlebe nicht nur bei den Lesungen, sondern auch bei meinen Fortbildungen für Schulrektoren, Angestellte der Arrestanstalten, Sozialarbeiter oder Verwaltungsangestellte ein Publikum, das Geschichten erzählt bekommen möchte, und plötzlich selbst zu Erkenntnissen kommt.
Inwiefern kommt Ihnen dabei Ihre eigene Herkunft zugute?
Durch die orientalische Erzählform, wo auch das Abschweifen vom Hundersten ins Tausendste, das Vereinfachen, das Übertreiben, das Palavern oder das Unterbrechen erlaubt sind, darf das Publikum aktiv mitmachen. Und immer, wenn man mitmachen darf, lernt man anders und mehr, als wenn man passiv zuhört. Beim Erzählen schaut man sich in die Augen, und der Erzähler kann besser auf die Bedürfnisse der Zuhörer eingehen. Für den Erzähler hat das Erzählen etwas Heilendes und Reinigendes. Außerdem sieht er unmittelbar die Reaktionen und Perspektiven der anderen.
Sie werden am kommenden Sonntag in Marbach aus ihrem Buch „33 Bogen und ein Teehaus“ lesen und dabei viel erzählen. Verraten Sie uns denn bereits vorab, was es mit diesen rätselhaften „33 Bogen“ auf sich hat?
Der Titel meiner Autobiographie beschreibt einen Ort in meiner Heimatstadt, an den ich die schönsten Erinnerungen habe: Die älteste Brücke Isfahans, die 33 Bogen hat, und ein Teehaus beherbergt.
Was wünschen Sie sich für das Erzählfestival am kommenden Sonntag?
Ein erzählfreudiges Publikum.
 
Info Schüler der Justinus-Kerner-Schule in Ludwigsburg haben ein halbes Jahr lang in den Marbacher Literaturmuseen Geschichten gesammelt und eigene Geschichten erzählt. Zum Abschluss des Projekts findet am  Erlebnissonntag auf der Schillerhöhe ein Erzählfestival mit Lesungen, Führungen und Erzählungen statt. Um 11 Uhr wird durch die Ausstellung „Rilke und Russland“ geführt, bevor um 12 Uhr Kinderbuchautorin Ute Krause liest. Um 13.30 Uhr präsentieren die Schüler ihr Projekt. Dirk Nowakowski zaubert um 14.30 Uhr Geschichten aus der Tasche. Die Dauerausstellungen stehen um 15.15 Uhr im Fokus, bevor um 16 Uhr Mehrnousch Zaeri-Esfahani aus ihrem Buch liest.