Michael Davidis, Ute Falkenberg, Kurt Mailänder und Annemarie Keppler erinnern sich mit Redakteur Oliver von Schaewen an die Zeit um 1968. Foto: Sandra Brock

Das Redaktionsgespräch „Die 68er-Erfahrung – und was bleibt?“ zeigt, was sich getan hat.

Marbach - Verdammt lang her, diese wilden Jahre um 1968. Und doch haben sie nachgewirkt. Aber wie? Eine muntere Gesprächsrunde beginnt, als sich Michael Davidis, Ute Falkenberg, Kurt Mailänder und Annemarie Keppler im Redaktionsgespräch begegnen. Es wird viel gelacht, aber auch vieles auf den Punkt gebracht. „Wir wurden im Geschichtsunterricht politisiert und haben erstmals von Auschwitz erfahren“, erinnert sich etwa die langjährige Lehrerin Ute Falkenberg. Gestreikt hätte man damals in Korntal am Gymnasium, als es um den Numerus clausus ging.

Es sind diese Erfahrungen des Widerstands, die ganze Biografien beeinflusst haben. „Ich bin später Lehrerin geworden, habe für die SPD zwölf Jahre im Großbottwarer Gemeinderat gesessen und im Personalrat 4000 Lehrerkollegen vertreten“, berichtet die inzwischen Pensionierte von ihrem weiteren Weg.

In eine „nachfragende Situation“ geriet auch Kurt Mailänder, der langjährige Leiter des Polizeireviers Marbach, damals bei sich daheim in Weikersheim. „Im Ort hat jeder gewusst, welche Vergangenheit der andere hatte – es wurde aber nicht darüber geredet.“ Der Zimmermeister etwa, der Nazi-Ortsgruppenleiter war, und jetzt beim Hausbau das billigere Angebot abgab, den Zuschlag jedoch nicht bekam. „Der Geschichtsunterricht endete immer bei der Weimarer Republik.“ Die „Verlogenheit um den Vietnamkrieg“ habe er als „schreiendes Unrecht“ wahrgenommen.

Stellung beziehen, das war ein Zug der 1968er-Zeit. So nahm Michael Davidis, später Leiter der Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Studienort München an vielen Demonstrationen teil. Allerdings glaubt er auch, „dass diese Haltung an vielen vorbeigegangen ist“. Studenten der technischen Fächer oder der Betriebswirtschaft hätten so weitergemacht. Er halte „die 68er“ schon damals für eine Minderheit, so wie er heute beim Ostermarsch die Mehrheit zum Shoppen gehen sehe. Der Protest gegen Vietnamkrieg und Kolonialisierung habe vereint. „Die Lehrer mit denen wir aufgewachsen sind, waren entweder Nazis oder traumatisierte Soldaten“, erinnert sich Davidis an seine Jugend in Pullach, einem Ort bei München, in dem die Nazis eine Mustersiedlung für Beamte, die „Heß-Siedlung“, gebaut hatten. Er sei der erste aus der Arbeiterfamilie gewesen, der studieren ging, aus einem Milieu heraus, das sich mit „ihr da oben, wir da unten“ definierte. „Wir standen vor der Wahl: Wollt ihr auch nach oben, um Karriere zu machen, oder wollt ihr insgesamt etwas ändern?“ Das sei ein wichtiges Überbleibsel der 1968er-Zeit, deren vehemente Phase er auf 1965 bis 1970 datiert.

An diese Zeit erinnert sich Annemarie Keppler noch genau. Da war der Umzug mit ihrem Mann, dem späteren Marbacher Bürgermeister Heinz Georg Keppler, von Neuenstein nach Schorndorf. „Dort ging die ganze Jugend zu dem Guru Werner Schrezmeier ins Autonome Jugendzentrum, das etwas völlig Neues war“, erinnert sie sich – und daran, dass ihr ältester Sohn Eckard später nach Mutlangen ging, um im Jahr 1983 gegen den Nato-Doppelbeschluss zu demonstrieren. „Du, da sagen wir dem Papi gar nichts – ich begleite dich, das ist mir zu gefährlich.“ Und so fand sie sich in der Schrezmeier-Gruppe wieder, die dann in Mutlangen darauf aufpasste, dass ihr inmitten der stiefeltretenden Polizisten bei der Sitzblockade nichts zustieß.

Im Jahr 1968 habe man schon viel gehabt, sei schon zum Urlaub nach Italien gefahren, erinnert sich Annemarie Keppler. Ihr Mann stammte aus einer SPD-nahen Familie, sie selber aus einer christlich-konservativen. „Das hat dann immer zu Diskussionen geführt, auch mit den Kindern, aber das war ganz positiv.“ Für sie persönlich sei die Frauenbewegung überaus wichtig gewesen. „Ich hab’s nicht getan, aber nach dem Gesetz hätte ich 1958 nach meiner Heirat meinen Mann fragen müssen, ob ich arbeiten gehen darf.“ Auch um den Führerschein zu machen, hätte es der Erlaubnis des Gatten bedurft. „Er hatte natürlich nichts dagegen.“ Solche Dinge habe es aber noch gegeben. „Damals hat auch ein Richter erstmals festgelegt, wie viel die Arbeitsleistung einer Hausfrau beträgt.“

Autoritäten sind seit dieser Zeit nicht mehr automatisch respektiert worden, stimmt Michael Davidis zu. Dies betreffe vor allem die Arbeitswelt. „Da ist man gegen autoritäre Strukturen aufgestanden.“ Das habe sich bis heute gehalten. Das sei denen, die sich engagierten, nicht immer gut bekommen. Das Studium sei furchtbar altmodisch gewesen, erinnert sich Davidis. „Der Muff von 1000 Jahren steckt unter den Talaren“ – dieser Spruch habe gesellschaftlich zugetroffen.

Die Polizei war total im Umbruch, erzählt Kurt Mailänder. „Wir wollten keine kasernierte Polizei wie in Frankreich, nach der ganzen Vergangenheit.“ Zu einer Bürgerpolizei gehörte, „die bestehenden Autoritätsstrukturen zu hinterfragen“. Mailänder macht das an der Person des damaligen SPD-Innenministers Walter Krause fest, der Anfang der 1970er-Jahre die „freiwillige Gemeindereform“ initiiert. „Die wäre heute nicht mehr machbar“, ist sich Mailänder sicher. Unter Filbinger habe es 1969 die „harten Demos“ mit Verletzten gegeben. „Ich selbst war bei der Rote-Punkt-Aktion in Heidelberg, als Studenten gegen die 30-prozentige Erhöhung der Fahrpreise demonstrierten und bei der Bevölkerung damit Erfolg hatten.“ Er erinnere sich noch gut an den Satz Krauses zur Polizei. „Ich brauche keine Sozialingenieure, sondern Polizeibeamte, die auch hart zugreifen können.“ Die Polizei als ausführendes Organ der Autorität – „das wollten wir nicht mehr“. In Heidelberg musste die halbe Augenklinik geräumt werden, weil die Polizei Reizgas mit geringer Zielgenauigkeit einsetzte, erinnert sich Mailänder. „Wir waren froh, als es vorbei war.“

Verunsicherte Autoritäten, davon weiß auch Ute Falkenberg zu erzählen. „Ich konnte als Schulsprecherin durchsetzen, dass ich bei Zeugniskonferenzen dabei sein konnte – das wäre heute unmöglich.“ Man sei gegen die Elterngeneration aufgestanden. Das habe es später so nicht mehr gegeben. „Wenn ich das heute sehe: Da laufen Mütter und Töchter in den gleichen Klamotten rum und lieben sich heiß und innig: Das wäre damals unmöglich gewesen.“ Andere Kleidung, andere Musik, „die Eltern fanden ‚die Neger-Musik’ furchtbar“. Man habe alles anders machen wollen, sie sei auch nicht nach Italien gereist, wie das die Elterngeneration in Zeiten des Wirtschaftswunders taten.

Die ältere Generation habe ein schlechtes Gewissen gehabt für das, was geschehen ist, erklärt sich Annemarie Keppler das Schweigen, das zum Autoritätsverlust geführt hatte. Das Mitlaufen mit den Nazis – „meine Großmutter hätte erschossen werden sollen, weil sie sich am Kriegende gegen eine Panzersperre gewehrt hat – ein kriegsgefangener Franzose holte die Truppen noch rechtzeitig.“ Viele Lehrerkollegien, auch das in Marbach am Friedrich-Schiller-Gymnasium, seien, was die geschichtliche Aufarbeitung anging, zweigeteilt gewesen.

Den Abiturball abgelehnt, das war bei Michael Davidis’ Jahrgang noch der Fall. „Bei meinem Sohn waren dann alle so steif angezogen, wie bei den Großvätern.“ Und im Studium habe man gefordert, gemeinsame Seminararbeiten ohne Kennzeichnung der individuellen Beteiligung abzugeben. „Es ging alles weniger autoritär zu als vorher – und nachher ging es geradezu wieder wie vorher weiter.“ Wenn er heute junge Leute im geisteswissenschaftlichen Bereich arbeiten sehe, falle ihm ein: „Wir waren gegen Konkurrenz – gegen das Ellbogen-Prinzip, dass man uns gegeneinander ausgespielt hätte, damit einer hochkommt, um die Stelle zu kriegen.“ Man habe gemeinsam zu kämpfen versucht. Befristete Verträge stünden dem entgegen. „Heute sind die in der Minderheit, die sich zusammentun – und die in der Mehrheit, die ihr eigenes Fortkommen in den Mittelpunkt stellen.“

Die Solidarität war bei der Polizei begrenzt, berichtet Kurt Mailänder, aber ein zentrales Thema sei die „Persönlichkeitsautorität“ gegen die „Amtsautorität“ gewesen. „Für manche Vorgesetzte war das nicht auszuhalten.“

Wie wenig Jüngere riskierten, wenn es darum ging, ihren Mund aufzumachen, erlebte Ute Falkenberg später bei ihrer Gewerkschaftstätigkeit unter Lehrerkollegen. „Die haben die unrechten Dinge genau gesehen, waren aber nicht in der Lage: Jetzt lege ich das auf den Tisch, reden zusammen und stellen das ab – es könnte ja sein, ich bekomme einen schlechteren Stundenplan.“ Auch Annemarie Keppler findet es schlecht, wenn kein offenes Wort geredet wird. „Die Leute sind mutlos geworden.“