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Die preisgekrönte Autorin Ulrike Draesner hat im Literaturmuseum der Moderne ihr neues Werk vorgestellt. Es handelt von Menschen auf der Flucht.

Marbach - Die über Generationen hinweg nachwirkenden psychischen Verletzungen durch Zwangsemigration sind Thema des Buches. „Ein Roman von Flucht und Vertreibung, deutsch-polnisch“, so beschreibe sie ihr Werk in der Kurzversion, sagte die Autorin Ulrike Draesner den Zuhörern am Mittwochabend im Berthold Leibinger-Auditorium im Literaturmuseum der Moderen (Limo). Die bekamen dann allerdings eine exklusive und spannende Langversion zu hören. Das war der aktuellen Ausstellung zu verdanken, mit der die Lesung verknüpft wurde.

Bei dieser monumentalen Bilderschau geht es nicht nur um angenehme, freiwillige, sondern auch um unfreiwillige Reisen. Wie in Draesners Buch, das ebenfalls monumental ist. Der Titel „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ deutet auf das große Kaleidoskop. Neun Personen aus vier Generationen lässt sie ihre Geschichten erzählen. Wie Kostproben der routinierten Vorleserin zeigten, besitzt ihre Sprache eine zwingende Rhythmik, der Titel ist ja schon ein Vorbote davon. Nicht umsonst hat sie in diesem Jahr den Joachim Ringelnatz-Preis für Lyrik erhalten. Draesner bringt selbst den Stil speziell dieses Buches mit der „Musik“ in Verbindung, die sie bei ihrer Recherche in der polnischen Landschaft erlebte. Bei aller sprachlichen Geschliffenheit erzeugt sie dennoch auch große Erschütterung in ihrer Darstellung der Leiden von Menschen auf der Flucht.

Um das Werk zu schreiben, hat Draesner viele Reisen im Internet und im Mai 2012 schließlich eine in der Realität gemacht. Über das Grenzgängerprogramm der Robert-Bosch-Stiftung wandelte die 1962 in München Geborene auf den Spuren ihrer Vorfahren. Sie fand das Brauereigebäude aus der Familie ihres Vaters und einen Flaschendeckel mit der Aufschrift „Paul Draesner Brauerei Oels“. Sie bat die Gäste: „Wenn Sie so etwas finden, schicken Sie es mir samt der Rechnung.“

Sie hat in polnischen Archiven geforscht, hat Zeitzeugen befragt. Einzelne Gespräche dauerten manchmal bis zu acht Stunden. Sie hat viele Fotos gemacht und ein „Lexikon der reisenden Wörter“ angelegt, das in das Buch eingeflossen ist. Anhand eines ihrer Fotos erklärte sie einen besonders berührenden Moment ihrer Recherchereise. Es zeigt eine alte Polin. Obwohl diese Frau seit Jahrzehnten in einem ehemals deutschen Haus lebt, habe sie immer noch das Gefühl, dass es ihr nicht zustehe. Sie bewohne nur ein Zimmer. Für Draesner ist es ein Beispiel für die Folgen einer erzwungene Reise „in nur eine Richtung“. Sie lasse die Menschen nie ankommen, der gepackte Koffer stehe stets bereit.

In der Limo-Ausstellung hat Draesner Fotos entdeckt, die sie spontan mit Stellen ihres Buches in Verbindung brachte, zum Beispiel die menschenleeren Parisbilder von Lili und Siegfried Kracauer und die Himmel-Aufnahmen von Heinrich Anacker. Auch der Umschlag ihres Buches ist wolkig. Ihre Interpretation: Wer zur Emigration gezwungen wird, komme zwar physisch irgendwo an, psychisch aber bleibe er in der Luft hängen, bekomme die Beine nicht mehr auf den Boden.