Philipp Wolpert (links) und Tobias Frühauf setzen voll auf die Karte Theater und wollen Marbach mit den Festspielen um eine Attraktion reicher machen. Foto: Werner Kuhnle

Die jungen Intendanten wollen Marbach mit den Festspielen um eine Attraktion reicher machen.

Marbach - Sie sind verdammt jung, hoch ambitioniert – und brennen für die Bühnenkunst: Regisseur Philipp Wolpert und Dramaturg Tobias Frühauf wollen nicht weniger als die Theaterwelt revolutionieren. Die Schillerstadt wird bald eine Kostprobe davon bekommen, was das bedeutet. Vom 28. Juni bis 22. Juli stellen Wolpert und Frühauf hier mit Unterstützung des Kulturvereins Südlich vom Ochsen die ersten Theaterfestspiele auf die Beine. Im Interview sprechen sie über ihre Ziele, Erwartungen, künstlerische Wurzeln und die vier Stücke, die gezeigt werden.

Die ersten Marbacher Theaterfestspiele stehen vor der Tür – mit vier Stücken und fast 30 Aufführungen. Wer von Ihnen hatte die Idee für dieses Mega-Projekt?
Frühauf: Die Idee gibt es schon länger. Wir haben in Marbach eine Menge Potenzial gesehen, weil die Stadt eine große kulturelle Bedeutung hat. Man muss nur an Schillers Geburtshaus oder das Literaturarchiv denken. Aus unserer Sicht fehlte im Grunde nur noch ein Theaterformat. Im Mai 2017 sind wir dann mit unseren Plänen für die Festspiele auf die Verantwortlichen von Südlich vom Ochsen zugegangen, die uns sofort ihre Unterstützung zusagten.
Sie sind beide noch sehr jung und trauen sich damit doch schon einiges zu.
Wolpert: Wir setzen ganz auf die Karte Theater. 2017 haben wir unser eigenes Label Tacheles und Tarantismus gegründet. Anfang dieses Jahres haben wir entschieden, das auch hauptberuflich zu machen. Tobias hat sein Studium abgebrochen, ich habe darauf verzichtet, obwohl ich für die Endrunde an Regieschulen eingeladen war. Beides geschah ganz bewusst. Wir wollen mit den festgefahrenen Theaterstrukturen brechen und glauben, dass wir unsere künstlerischen Ideale nur auf diesem Weg umsetzen können.
Frühauf: Die Entscheidung, uns aus dem traditionellen System auszuklinken, ist nicht aus dem Bauch heraus gefallen. Wir haben viele Gespräche mit Leuten aus der Branche geführt und uns dann dazu entschlossen, diesen Schritt zu gehen. Dazu gab es auch gar keine Alternative. Alleine für das Projekt in Marbach investieren wir sechs Stunden pro Tag.
Wolpert: Unser Ziel ist es, die tarantistische Revolte in der Theaterwelt auszulösen (schmunzelt).
Das bedeutet?
Frühauf: Wir möchten die Theaterwelt wieder für ein jüngeres Publikum attraktiver machen. Wenn ich in ein Stadttheater gehe, sehe ich doch, dass Theater sehr elitär ist und eher ältere, gut betuchte Menschen das Theater besuchen. So hat das Theater keine Zukunft mehr. Da fehlen die Innovationen und die Experimentierlust, auch der Mut, neue Spielstätten zu suchen. Man müsste auch das Prinzip des Frontaltheaters aufweichen, um Jugendliche anzusprechen und das Publikum zu begeistern. Man kann auch Populärmusik einbauen.
Wolpert: Es wird zwar schon probiert, genreübergreifendes Theater zu machen. Das sind aber nur Ansätze. Da wird mal ein Tänzer mit hineingenommen oder man arbeitet mit einem VJ, also einem Videokünstler. Aber eine wirkliche Kooperation mit den anderen Kunstdisziplinen findet nicht statt. Das wollen wir ändern und wirklich mal aus dem Theaterkontext ausbrechen. Wir möchten beispielsweise mit einem Hip-Hop-Label kooperieren, das deutschlandweit operiert.
Frühauf: In der Institution Theater wird immer Menschlichkeit geprägt. Der Blick hinter die Kulisse zeigt aber, dass das ein autoritäres System ist. Es gibt Intendanten, die sagen nicht einmal der Putzfrau Hallo und brechen Schauspielern das Rückgrat.
Wolpert: Tarantismus ist die Tanzwut, wenn man von einer Tarantel gestochen wird. Daran anlehnend wollen wir unsere Ideen und unsere Ästhetik wie eine Tanzwut und Epidemie verbreiten, damit es hohe Wellen schlägt und die Leute erreicht.
Spielt es auch eine Rolle, wo die Produktionen spielen?
Wolpert: Konkret auf die Festspiele in Marbach bezogen, möchten wir auch etwas für die Stadt erreichen. Zu unserem Grundkonzept gehört, Theater für alle Menschen machen zu wollen.
Frühauf: Wir wollen die Stadt kulturell beleben. Dazu zählt dann auch die Innenstadt. Es ist dort mehr los, wenn über mehrere Tage etwas geboten ist. Man kommt oft zwei, drei Stunden früher, trinkt oder isst noch etwas, wovon die Gastronomie profitiert. Für die Zukunft möchten wir auch mit den hiesigen Institutionen wie Schillers Geburtshaus, wo verschiedene Formate denkbar wären, oder dem Mayer-Museum, wo Lesungen stattfinden könnten, kooperieren. Nicht zu vergessen das Literaturarchiv. Da liegen die ganzen Texte.
Wolpert: Wichtig ist nicht nur, was auf der Bühne geschieht. Wir haben auch die Lebensqualität in der Stadt im Blick. Wir konnten eine Vielzahl von Kleinsponsoren wie Restaurants und Einzelhändler gewinnen. Das ist immens und zeigt, wie groß hier die Chance eingeschätzt wird, auch auswärtiges Publikum nach Marbach zu holen. Das Thema Integration spielt ebenfalls eine Rolle. Wir werden mit Geflüchteten arbeiten. Sie werden uns zum Beispiel beim Aufbau des Bühnenbilds oder an der Kasse helfen. Vielleicht kann das auch mal interessant für ein Stück sein.
Zu Ihrem Konzept gehört auch, Laien bei den Aufführungen einzubinden.
Wolpert: Der Begriff „Laien“ würde in die Irre führen. Wir finden, das Wort „Newcomer“ trifft es besser. Denn wir wollen mit Leuten zusammenarbeiten, die das gleiche Niveau liefern wie unsere professionellen Schauspieler. Für die diesjährigen Festspiele in Marbach besteht unser Ensemble bei den vier Produktionen aus fünf Darstellern, die ihr Geld als Darsteller verdienen, und acht Newcomern – die wir in Zukunft auf spezielle Weise finden wollen.
Was ist denn geplant?
Wolpert: Die Idee ist, ein offenes Casting für Marbach auszuschreiben. Beteiligen können sich daran vor allem junge Menschen. So geben wir auch den Leuten aus der Stadt selbst und der näheren Umgebung die Möglichkeit, mitzuwirken.
Wo ist der Mehrwert, wenn Profis und „Newcomer“ zusammen agieren?
Wolpert: Uns interessiert vor allem die künstlerische Reibung. So treffen Leute aus den unterschiedlichsten Berufsschichten aufeinander. Wer sonst wenig mit Schauspiel am Hut hat, kann die Erfahrungen aus seinem Alltag und seinen ganz besonderen Blickwinkel mit einbringen.
Bekommen die Talente auch eine Gage?
Frühauf: Ursprünglich hatten wir für alle Schauspieler eine Gage vorgesehen. Aber die Finanzierung stand lange auf der Kippe, sodass wir noch mal mit dem Rotstift ranmussten. Deshalb haben wir für die Newcomer nun eine Erfolgsbeteiligung vereinbart. Die Gelder, die übrig bleiben, werden in großen Teilen an sie ausgeschüttet. Die Profis bekommen eine feste Pauschale.
Wolpert: Wir wollen die Leistung der Newcomer auf jeden Fall honorieren. Das sind Theater-Besessene, die für ihre Leidenschaft teils acht Stunden pro Tag investieren.
Wie ist denn Ihre Leidenschaft fürs Theater entstanden?
Wolpert: Ich bin aus der Musik zum Regiefach gekommen. Ich stand immer gerne auf der Bühne, habe Schlagzeug, Gitarre und Klavier gespielt. Mit zwölf Jahren habe ich dann gesagt: Ich schreibe selbst ein Musical. Irgendwann wollte ich die Stücke, die ich schreibe, auch selbst inszenieren. Was ich zum Beispiel bei den Ilsfelder Musicaltagen getan habe. Dort ist der Intendant des Heilbronner Theaterschiffs auf mich aufmerksam geworden. Er wollte mich fördern und hat mir verschiedene Regiejobs vermittelt. Irgendwann kamen die Aufträge von alleine.
Frühauf: Bei mir war es so, dass ich relativ spät zum Theater gekommen bin. Was ich schon seit meiner Jugend hatte, war die Liebe zur Literatur. Ich habe viel geschrieben und gelesen. Über mein Studium kam ich 2016 nach Stuttgart. Spaßeshalber habe ich beim Casting für „Krabat“ mitgemacht, ein Stück, das Philipp in Kleinbottwar auf die Bühne gebracht hat. Da wurde ich genommen und schnupperte ein bisschen in die Dramaturgie rein. So wurde ich angefixt. Über Selbstbildung bin ich dann total in die Theaterthematik eingestiegen.
Und nun stehen Sie mit den Theaterfestspielen vor Ihrer wohl größten Herausforderung. Was dürfen die Besucher erwarten?
Wolpert: Das Hauptstück wird „Emilia Galotti“ sein. Tobias hat aus der Vorlage von Lessing etwas komplett Neues geschaffen.
Frühauf: Das ist ein Stoff, der schon zigfach gespielt wurde. Deshalb haben wir uns entschieden, eine komplett neue Fassung zu schreiben. Lessing wird nur noch in Zitaten vertreten sein, die Sprache erheblich modernisiert. Das Ganze bekommt auch einen cineastischen Anstrich, was die Dialoge betrifft. Wir verabschieden uns von den hochtrabenden Texten und setzen auf eine sehr naturalistische Sprache. Es wird Schlag auf Schlag gehen. Seitenlange Monologe gibt es nicht mehr. Unser Ziel sind dynamische Wortwechsel.
Haben Sie auch in die Handlung eingegriffen?
Frühauf: Auch das. Am Ende wird es eine Überraschung geben, die nicht mehr dem Original entspricht. Trotz all dem war uns wichtig, die Intention von Lessing aufzugreifen. Der Lobbyismus oder die Privatisierung des Einzelnen sind Themen, die auch in unserer Fassung vorhanden sind. Sie sind heute noch aktuell.
Wolpert: Bei der Inszenierung bauen wir auch andere Kunstdisziplinen ein. Manches wird tänzerisch oder per Pantomime dargestellt. In einer Szene orientieren wir uns von der Stimmung her am „Garten der Lüste“, einem Gemälde von Hieronymus Bosch.
Frühauf: Dazu bringen wir eine sehr überspitzte und groteske „Emilia Galotti“ auf die Bühne. Es wird ein Stück der Antihelden, bei dem bis auf Emilia als Gegenpol eigentlich keine komplett positiven Figuren mitmischen. Alle machen sich die Hände schmutzig.
Wolpert: Es geht um eine Menschenstudie. Was sind seine Antriebe? Wie handelt er? „Emilia Galotti“ versucht, politische Vorgänge am Privaten sichtbar zu machen. Das ist es auch, was uns an dem Stück interessiert hat.
Spielt das Stück in der Gegenwart?
Wolpert: Es ist zeitlos, also in keiner bestimmten Zeit verortet.
Welches Publikum wollen Sie damit ansprechen?
Wolpert: Ich denke, mit dem Stück kann jeder etwas anfangen. Es hat Tiefgang, ist unterhaltend und stellenweise auch zum Lachen – das einem aber unter Umständen dann gleich wieder im Hals stecken bleibt.
Sie zeigen aber noch weitere Stücke.
Wolpert: Der Spielplan ist sehr breit. Mit „Der kleine Prinz“ haben wir ein Familienstück im Programm mit speziellen Schulaufführungen. Dazu kommt der Chansonabend „Heute geh’n wir morgen erst ins Bett“. Dann haben wir noch das Kammerspiel „Vergessen – Literarische Lethe“, eine literarische Zeitreise durch die frühe Moderne.
Mit wie vielen Besuchern rechnen Sie über die vier Wochen?
Wolpert: Wenn wir hundertprozentig ausgelastet wären, hätten wir insgesamt 5000 Besucher. Ich denke, das ist machbar. Ziel ist es, mit der Zeit größer zu werden. Die Marbacher Theaterfestspiele sollen sich als kulturelle Institution etablieren. Sie sollen jedes Jahr oder alle zwei Jahre stattfinden. Das ist auch der Wunsch der Stadt. Das soll keine Eintagsfliege sein.

Das Festival und die Serie

Das Theaterfestival findet von Donnerstag, 28. Juni, bis Sonntag, 22. Juli, statt. Gespielt wird auf dem Burgplatz und im Schlosskeller. Vier Stücke werden insgesamt gezeigt. Karten gibt es online auf www.reservix.de. Reservix-Vorverkaufsstellen sind in Marbach: Schilleria, Markstraße 15, Beran, Marktstraße 32, und Euli-Service in Rielingshausen. Über die Tourismusgemeinschaft Marbach-Bottwartal sind auch Pauschalarrangements mit Ticket, Programmheft, Übernachtung und Blick hinter die Kulissen erhältlich. Kontakt unter Telefon 0 71 44 / 10 22 97 und -2 50 oder per E-Mail an touristik@schillerstadt-marbach.de.
In einer achtteiligen Serie führen wir auf die Festspiele hin, stellen Stücke und Protagonisten vor.