Adelheid Schweigert hat Treffen von einstigen Bewohnern des Kinderheims auf der Karlshöhe organisiert. Foto: Werner Kuhnle

Die 63-jährige Adelheid Schweigert erhält das Bundesverdienstkreuz. Ehemaligen Heimkindern der Ludwigsburger Karlshöhe eine Plattform zum Austausch zu bieten, ist ihr seit Jahren eine Herzensangelegenheit.

Erdmannhausen - Adelheid Schweigert weiß es durchaus zu schätzen, dass ihr ehrenamtliches Engagement am 2. Februar gewürdigt wird. „Im Nachhinein ist das eine Anerkennung“, sagt sie über das Bundesverdienstkreuz, das ihr dann verliehen wird. „Aber was ich gemacht habe, habe ich nicht gemacht, um etwas umgehängt zu bekommen. Es ist eine Herzensangelegenheit für mich“, betont die 63-Jährige. Diese Herzensangelegenheit bestand und besteht weiter darin, ehemaligen Heimkindern der Ludwigsburger Karlshöhe eine Plattform zu bieten, auf der sie sich austauschen können – damit sie mit den negativen Nachwirkungen, die sie aus ihrer Zeit in der Einrichtung mit sich herumschleppen, nicht alleine zurechtkommen müssen. Früher hat Adelheid Schweigert alle drei bis fünf Jahre große Treffen mit vielen Gästen auf die Beine gestellt. Mittlerweile läuft alles eine Nummer kleiner ab. Die Erdmannhäuserin organisiert im dreimonatigen Turnus einen Stammtisch im Marbacher Schillerhof.

Die Initiative zu dem Projekt war 1986 von Adelheid Schweigerts inzwischen verstorbener Freundin Carola Trotta ausgegangen. Carola Trotta erzählte damals davon, ehemalige Heimkinder, Erzieher und Heimleiter zusammentrommeln zu wollen. 300 Adressen habe sie schon gesammelt, die es nun abzuklopfen gelte. „Das kannst Du unmöglich alleine schaffen. Ich übernehme einen Teil“, antwortete Adelheid Schweigert. Erstaunliche 128 Personen konnten die Freundinnen am Ende mobilisieren. „Damit hätte eigentlich alles aufhören können“, sagt Adelheid Schweigert. „Aber durch Gespräche ist mir damals aufgefallen: Da gibt es ein großes Bedürfnis, mit jemandem über seine Gefühle reden zu können. Das war fast bei allen so. Sie fühlten sich als Kinder von ihren Eltern abgeschoben. Und auf der Karlshöhe haben sie dann gemerkt, dass es da auch nicht besser ist“, erzählt Adelheid Schweigert. Eine Erfahrung, die sie selbst auch machen musste.

Neun Jahre war sie alt, als ihr Leben eine schmerzhafte Wendung erfuhr und sie in das Kinderheim auf der Karlshöhe einziehen musste. Bis dahin hatte Adelheid Schweigert eine unbeschwerte Kindheit verbracht. Sie war bei ihren Großeltern am Niederrhein aufgewachsen. Vor allem den Opa liebte sie heiß und innig. Bei der Mutter wollte oder konnte sie nicht sein, so genau erinnert sie sich nicht mehr daran. Der Vater spielte in ihrem Leben nur eine Nebenrolle. Doch dann stieß ihre Oma nach zwei Herzinfarkten an eine Grenze und schaffte es nicht mehr, für sie zu sorgen. Da die kleine Adelheid zudem kränkelte, empfahlen die Ärzte eine Luftveränderung. Daraufhin holte die Mama ihre Tochter zu sich nach Kornwestheim. Doch nur für ganz kurze Zeit. „Unvorbereitet hat sie mich auf der Karlshöhe abgegeben. Und statt in der Kur bin ich in einem Kinderheim gelandet.“ Für Adelheid Schweigert begann damit ein Martyrium.

Die Erdmannhäuserin hat keine körperlichen Übergriffe erleiden müssen. Aber die Seele habe gelitten, erinnert sie sich. Früher war sie die „Henne“ im Korb. Plötzlich musste sie sich in einer Gruppe von 18 bis 20 Mädchen und kleinen Jungs behaupten. Fast alle Erzieher hätten ihren Dienst ohne entsprechende Ausbildung verrichtet. „Am schlimmsten war, dass es keinen Ansprechpartner gab“, sagt Schweigert. Man sei weder in seiner Individualität noch in seinen besonderen Fähigkeiten gefördert worden. Privatsphäre habe sie nur vom Hörensagen gekannt. „Ich habe sehr gelitten. Es gab keinen Rückzugsort“, erklärt sie. Sogar das eigene Fach im Schrank sei für jeden zugänglich gewesen. „Ich fühlte mich wie im Gefängnis.“ Am liebsten habe sie gelesen, doch wenn gemeinsame Spiele auf dem Programm standen, habe man sich einklinken müssen. „Man durfte nicht sein, wie man ist. Durfte nicht das machen, was einem Spaß macht. Man wurde irgendwie verfälscht“, sagt sie. Alles in allem habe es sich um „Missbrauch auf emotionaler Ebene“ gehandelt.

In Adelheid Schweigert brodelte es. Aber sie traute sich nicht, aufzubegehren. „Da stand immer das Schreckgespenst im Raum, dass man dann ins Erziehungsheim kommt.“ Anderen Kindern wollte sie sich auch nicht anvertrauen. Sie habe Angst gehabt, verpfiffen zu werden. Und gemobbt fühlte sie sich ohnehin schon. Aus Sicht der Erzieher habe sie den anderen Mädchen mit ihren Geschichten von Kino und Co., von der Welt jenseits der Karlshöhe-Mauern den Kopf verdreht. „Das hat man mir übel genommen“, sagt sie. Dass sie in diese Welt hineinschnuppern konnte, verdankte sie der Tatsache, eine Mittelschule zu besuchen, die außerhalb des Geländes angesiedelt war. Adelheid Schweigert schöpfte vor allem aus einem Gedanken Kraft: Dass sie nach der Schule ausziehen könnte. „Mit 16 habe ich mich dann endlich entlassen“, sagt sie.

Ihren Seelenfrieden fand sie in der Selbsttherapie. „Ich lese viel, ich reflektiere viel“, sagt sie. Andere ehemalige Heimkinder schafften es weniger gut, sich mit ihren Dämonen aus der Vergangenheit zu versöhnen. Sie suchten Trost in Alkohol oder verfielen einen anderen Sucht. Manche starben auch, weil sie im Leben nicht mehr klarkamen. Für Adelheid Schweigert kein Wunder. Schließlich sei den Mädchen und Jungs kein Selbstwertgefühl vermittelt worden. Einige hätten aus Scham sogar ihren Kindern und Vertrauten verschwiegen, auf der Karlshöhe aufgewachsen zu sein. Zudem könnten Angehörige oder Freunde nicht immer nachvollziehen, was die Heimkinder bewege, oder seien damit überfordert. Umso wichtiger war es für Adelheid Schweigert, die Leidensgenossen zusammenzubringen und ihnen Gesprächspartner auf Augenhöhe zu vermitteln. Mehr als 100 Personen leitete sie zudem an eine offizielle Beratungsstelle in Stuttgart weiter. „Die Leute sollten in Frieden leben können mit ihrer Kindheit, ihrer Geschichte, ihren damaligen Betreuern und der Institution Karlshöhe. Das war vorher unmöglich“, sagt die Frau, die genau das möglich gemacht hat.

Längst hat sich auch die Karlshöhe öffentlich für die damaligen Vorkommnisse entschuldigt. Vor zehn Jahren war ein Projekt angestoßen worden, bei dem die Zeit aufgearbeitet wurde und Heimkinder, Betreuer und Heimleitung an einem Tisch saßen. Adelheid Schweigert will auch nicht verhehlen, dass sich damals einige Erzieher im Umgang mit den Kindern bemüht hätten. „Jeder hat sein Bestes gegeben, für uns war das aber zu wenig“, erklärt sie.